„Was muss noch passieren?“
Rosenheimerin liegt tagelang in ihrem Urin - und muss trotzdem um einen Pflegegrad kämpfen
Es ist ein Fall, der die Region bewegt: Eine Seniorin (84) stürzt und liegt tagelang hilflos in ihrer Wohnung. Die DAK lässt ihre Mutter im Stich, findet die Tochter. Die Pflegekasse sieht das anders. Eine Geschichte, die für Aufsehen sorgt.
Rosenheim - Zwei Tage lang liegt Erika O. hilflos vor der Waschmaschine - in ihren eigenen Exkrementen. Sie isst nichts, trinkt nur wenige Schlucke Wasser. „Sie ist bei der Hausarbeit gestürzt und konnte sich aufgrund ihrer chronischen Erkrankungen tagelang nicht aufsetzen, geschweige denn aufstehen, um sich aus ihrer hilflosen Situation zu befreien“, sagt Angelika K., die ihren vollständigen Namen nicht in der Zeitung lesen will.
Angelika K. ist die Tochter der 84-jährigen Frau, deren Geschichte im Dezember 2022 Aufsehen erregt. Die Polizei berichtet in einer Pressemitteilung über den Fall, wenige Tage später wendet sich die Tochter der Seniorin an die OVB-Heimatzeitungen. In einer E-Mail schildert sie den Vorfall, berichtet von den Krankheiten ihrer Mutter und bittet um Unterstützung.
Angelika K. lebt mit ihrem Mann in Markt Erlbach im Landkreis Neustadt an der Aisch-Bad Windsheim. Von dort fährt die Tochter mehrmals im Monat die 280 Kilometer lange Strecke nach Rosenheim, um sich um ihre Mutter zu kümmern. Angelika K. kauft ein, bringt frische Wäsche mit und macht sauber. Kleinigkeiten im Haushalt kann die 84-Jährige zwar noch alleine erledigen - allerdings nur unter größter Anstrengung.
Beweglichkeit lässt immer mehr nach
„Meine Mutter leidet seit vielen Jahren an einer Erkrankung, die ihre Beweglichkeit immer weiter einschränkt“, sagt Angelika K. Statt des ersten Halswirbels habe ihre Mutter eine Titanplatte im Kopf - die, wie sich nach dem Sturz herausgestellt hat, zum Teil gebrochen ist. Zudem sei ihr Hals versteift. Dennoch bestehe die 84-Jährige darauf, in ihrer Wohnung zu bleiben. Damit ihre Mutter trotzdem die Unterstützung bekommt, die sie braucht, beantragte Angelika K. bei der Deutschen-Angestellten-Krankenkasse (DAK), dass die Pflegebedürftigkeit ihrer Mutter ermittelt wird.
Beeinträchtigungen bei der Selbstständigkeit
„Als pflegebedürftig gelten Personen, die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen“, sagt DAK-Pressesprecher Stefan Wandel auf OVB-Nachfrage. Dabei komme es nicht darauf an, wie lange die Versicherten für eine Tätigkeit benötigen, sondern wie selbstständig sie diese noch durchführen können. Stefan Wandel erklärt das am Beispiel der Nahrungsaufnahme. „Kann die Person ihr Essen noch selbst ohne Anleitung zu sich nehmen, so gilt dies, auch wenn es zum Beispiel 30 Minuten dauert, als selbstständig.“ Dauert die Mahlzeit nur zehn Minuten, muss aber zerkleinert und zugeführt werden, gilt dies laut dem Pressesprecher als Beeinträchtigung der Selbstständigkeit. „Das ist für Angehörige meist schwer nachzuvollziehen, aber so sieht es die aktuelle Rechtsprechung vor“, erklärt Wandel.
Um den Grad der Hilfsbedürftigkeit zu ermitteln, beauftragt die Pflegekasse einen Gutachter des Medizinischen Dienstes (MD). Dieser kündigt sich laut Dr. Marianna Hanke-Ebersoll, Leiterin im Bereich Pflege des MD Bayern, rechtzeitig an. Die Pflegebedürftigen und deren Bevollmächtige erhalten vorab einen Fragebogen. Dieser soll die Betroffenen der Expertin zufolge auf das Telefoninterview sowie ein Gespräch vor Ort vorbereiten. „Eine Erstbegutachtung dauert circa eine Stunde“, sagt Hanke-Ebersoll. Anschließend sendet der Mitarbeiter das Gutachten an die Pflegekasse.
„Die Entscheidung über den Antrag trifft die Pflegekasse. Von dort erhalten die Versicherten einen schriftlichen Bescheid über den Pflegegrad und die Leistungen sowie auf Wunsch das Gutachten“, sagt Marianna Hanke-Ebersoll. Oder - wie im Fall von Erika O. - eine Absage. „Trotz ihrer Krankheit wurde der Antrag auf Pflegestufe in den vergangenen Jahren wiederholt abgelehnt“, sagt Angelika K.. Warum, weiß sie nach eigenen Angaben bis heute nicht.
Vorbereitung auf Besuch des Gutachters extrem wichtig
Vermutungen, an was es gelegen haben könnte, äußert Gisela Rohmann, Pflegeexpertin der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz. „Der Wunsch nach einer Unterstützung im Haushalt ist für den Erhalt eines Pflegegrads irrelevant. Es kommt darauf an, ob in sechs genau definierten Lebensbereichen eine Hilfestellung von anderen Personen benötigt wird oder ob der oder die Betroffene bestimmte Dinge selbstständig erledigen kann“, sagt sie. Hinzu komme, dass viele Menschen laut der Expertin dazu neigen, sich in Prüfungssituationen besser darzustellen, als sie es im Alltag sind. Auch weil viele nicht wüssten, worauf es ankommt. Statt anzugeben, dass sie beim Aufstehen Hilfe benötigen, sagen sie dem Gutachter, dass ihnen das Aufstehen „schwer fällt“. Eine gute Vorbereitung auf den Besuch des Gutachters sei deshalb wichtig, um von der Kasse die angemessene Pflegeleistung zu bekommen.
14-tägiger Krankenhausaufenthalt und Reha-Besuch
Darauf hofft nach wie vor auch Angelika K. Nach dem Vorfall im Dezember lag ihre Mutter 14 Tage im Krankenhaus, anschließend war sie in einer Reha-Klinik. „Aufgrund einer Corona-Infektion verbrachte sie einen Großteil der Zeit dort im Bett“, sagt Angelika K. Bis heute sei ihre Mutter nicht in der Lage, sich selbst zu waschen und sich nach dem Toilettengang richtig zu reinigen. Auch kleinere Arbeiten im Haushalt, die sie vor dem Sturz noch erledigen konnte, sind nicht mehr möglich. „Von den Ärzten und Pflegern habe ich in den vergangenen Wochen immer wieder gehört, dass meine Mutter nicht mehr alleine leben sollte, Kurzzeitpflege braucht und Pflegestufe 3 realistisch ist“, berichtet die Tochter der Rosenheimerin.
Umso größer sei der „Faustschlag in die Magengrube“ gewesen, als sie den Bescheid ihrer Krankenkasse in den Händen gehalten hat. „Während des aktuellen stationären Aufenthalts unserer Versicherten wurde durch das Krankenhaus ein Eilantrag auf Pflegeeinstufung gestellt und daraufhin ein Kurzgutachten erstellt“, sagt DAK-Pressesprecher Stefan Wandel und weiter: „Auf dessen Basis erfolgte von uns eine befristete Bewilligung des Pflegegrads 1.“ Bedeutet: Laut Gutachten ist Erika O. so gut wie gar nicht auf die Unterstützung von Angehörigen oder professionellen Pflegekräften angewiesen.
125 Euro im Monat bei Pflegestufe 1
„Diese Entscheidung kann ich nicht nachvollziehen. Was muss eigentlich noch Schlimmeres passieren, dass eine Pflegebedürftigkeit bei einem Menschen anerkannt wird, der so viele Dinge aus eigener Kraft nicht mehr schafft“, sagt Angelika K. Sie kritisiert, dass Menschen mit Pflegegrad 1 keinen Anspruch auf Pflegegeld haben. „Wie soll ich da einen Pflegedienst finanzieren?“, fragt sie. Den brauche ihre Mutter aber, sonst müsse sie als Tochter bei ihr einziehen.
In den kommenden Tagen wird der Medizinische Dienst laut DAK-Pressesprecher Stefan Wandel mit der ausführlichen Begutachtung der 84-Jährigen beauftragt. „Sobald uns das Gutachten vorliegt, wird der entsprechende Bescheid erstellt.“ Ob Erika O. dann einen höheren Pflegegrad erhält, wird sich zeigen. Bis die Entscheidung fällt, bezahlen Angelika K. und ihre Mutter den Pflegedienst aus eigener Tasche. Bei einer Rente von 1.200 Euro laut Angelika K. kein leichtes Unterfangen.
