Dramatische Geschichte eines 89-jähriger Rentners
„Irgendwann sterbe ich und niemand wird es mitbekommen“: Verzweifelter Hilferuf eines Rosenheimers
Immer mehr Senioren leiden unter Einsamkeit. Auch in Rosenheim. Karl B. ist einer von ihnen. Seit dem Tod seiner Frau hat er kaum noch soziale Kontakte. Jetzt erzählt er seine Geschichte – und wendet sich mit einem Hilferuf an die Rosenheimer.
Rosenheim – Karl B. hat Angst davor, alleine zu sterben. In seinem Bett, das in der Doppelhaushälfte steht, mit den orangefarbenen Gardinen in den Fenstern, die fast immer zugezogen sind. „Niemand würde es mitbekommen. Das macht mich traurig“, sagt er. Seit drei Jahren ist der 89-Jährige, der eigentlich nicht Karl B. heißt, aber seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, auf sich gestellt.
Von einer Minute auf die andere alleine
„Von einer Minute auf die andere war ich ganz alleine“, sagt er. Seine Stimme ist leise. Immer wieder steht er vom Küchentisch auf, öffnet Schubladen und kehrt mit Fotoalben zurück. Er blättert durch die einzelnen Seiten, zeigt auf verschiedene Bilder. Auf einem ist er mit seiner Frau Lieselotte zu sehen.
60 Jahre waren die beiden verheiratet, haben gemeinsam Höhen und Tiefen erlebt. Bis zu jenem Novembertag vor drei Jahren. „Sie hat das Haus gesund verlassen und ist nie wieder zurückgekommen“, sagt Karl B.. Wieder kramt er in einer Schublade, kommt mit Arzt- und Polizeiberichten zurück. „Seine Lotte“ sei gestürzt, habe sich schwer verletzt und habe operiert werden müssen. Doch für die Seniorin reichte die Hilfe nicht, sie starb noch im Krankenhaus. Seitdem ist für Karl B. alles anders.
Kinder kümmern sich kaum um ihren Vater
Schlechter. Einsamer. Trostloser. Es gibt viele Worte, die er nutzt, um seine Situation zu beschreiben. Zu seinen beiden Kindern habe er so gut wie keinen Kontakt mehr. Seine Tochter schaue gelegentlich vorbei, sein Sohn kümmert sich seit langem nicht mehr um ihn, obwohl er nur wenige Kilometer entfernt wohnt. Warum sie sich nicht für ihn interessieren, kann der 89-Jährige nur vermuten. „Es tut mir weh, dass sie sich überhaupt nicht mehr sehen lassen.“
Denn Unterstützung könnte der Rentner gut gebrauchen. Beim Einkaufen. Beim Haushalt. Im Kampf gegen die Einsamkeit. Die ist es, die ihm am meisten zu schaffen macht. „Ich würde einfach gerne mit jemandem reden. Selbst wenn es nur einmal in der Woche ist“, sagt er.
Mittagessen von der Rosenheimer Leibspeise
Soziale Kontakte hat er kaum noch. Da wäre sein guter Freund Manfred, der hin und wieder vorbeikommt. Und die Pflegekraft am Vormittag, die ihm seine Tabletten in die Hand drückt und darauf achtet, dass er die kleinen weißen Pillen auch wirklich runterschluckt. Immer montags bringen ihm Mitarbeiter der Rosenheimer Leibspeise Mittagessen vorbei. Mehr Menschen sieht der 89-Jährige nicht.
Also versucht er sein Leben selbst zu stemmen. Er hat sich wieder hinters Steuer gesetzt. Und das, obwohl er aufgrund eines Schlaganfalls jahrelang nicht fahren durfte. „Jeder ist immer erschrocken darüber, dass ich wieder Auto fahre, aber was wäre die Alternative? Wenn ich nicht einkaufen gehe, verhungere ich.“
Eine Mappe voller Todesanzeigen
Einmal in der Woche fährt er deshalb die zwei Kilometer bis zum Supermarkt. Er fährt zum Doktor und fährt zum Friedhof. Einmal im Monat ist er auf irgendeiner Beerdigung. Wieder steht er auf und legt einen weiteren Ordner auf den Küchentisch. „Das ist eher traurig“, sagt er. In der Mappe befinden sich zahlreiche Todesanzeigen. Von Freunden, Bekannten, Familienmitgliedern. Und von seiner Lotte.
Karl B. schneidet die Anzeigen aus, klebt sie auf ein Stück weißes Papier und schiebt das Papier in eine Klarsichtfolie. Hin und wieder blättert er durch die einzelnen Seiten, schwelgt in Erinnerungen an ein Leben, in dem es nicht nur ihn gab. „Ich merke, wie ich mich immer mehr vom Leben abkapsle“, sagt er. Auch, weil er fremden Menschen gegenüber immer misstrauischer werde.
Skepsis durch Schockanruf gestiegen
Erst vor einigen Tagen habe eine Frau bei ihm angerufen, die ihm mitgeteilt hatte, dass seine Tochter bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Dass es sich um einen Schockanruf gehandelt hat, habe er sofort gewusst. Seine Skepsis sei dadurch nur gewachsen.
Trotz Pflegestufe 2 keine Unterstützung
Es ist einer der Gründe, warum er sich trotz seiner Pflegestufe 2 erst einmal nicht um eine Pflegekraft für zu Hause bemühen will. „Ich möchte nicht auf fremde Menschen angewiesen sein“, sagt er. Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass der 89-Jährige vorerst weiterhin alleine bleibt. In dem großen Haus, das bis unters Dach mit Erinnerungen gefüllt ist. An seine Lotte, die Kinder und eine Zeit, vor der Einsamkeit.
Vorsitzende des Seniorenbeirats kennt Problem
„Mit dem Problem ‚Einsamkeit im Alter‘ sind wir sehr häufig konfrontiert“, sagt Irmgard Oppenrieder, Vorsitzende des Rosenheimer Seniorenbeirats. Angehörige wohnen weit weg, sind oft desinteressiert. Freunde und Nachbarn sind im Laufe der Jahre gestorben. Häufig fehle den Senioren auch der Antrieb, sich an eine der zahlreichen Anlaufstellen wie das „ Café Miteinander“ zu wenden. „Wir sind oft der einzige Besuch“, sagt Irmgard Oppenrieder.
Mehr Informationen
Unterstützung im Kampf gegen die Einsamkeit bietet beispielsweise der gemeinnützige Verein „Nachbarschaftshilfe Rosenheim“ an. Jeden Samstagnachmittag gibt es im Café Miteinander die Möglichkeit, sich bei Kaffee und Kuchen zu unterhalten. Ein Fahrdienst holt die Senioren ab und bringt sie nach der Veranstaltung wieder nach Hause. Zudem gibt es diverse Besuchsdienste sowie Seniorennachmittag in den Kirchen. Oppenrieder nennt die Seniorenbegegnungsstätte der Caritas sowie die Frühstücksangebote in den Bürgerhäusern als weitere Anlaufstellen. Zudem würden einige Geschäfte die Lebensmittel auch nach Hause liefern. „In Rosenheim gibt es viele Anlaufstellen. Das Problem liegt jedoch meist bei den Senioren. Für sie ist es eine riesengroße Überwindung, sich der Situation zu stellen“, fasst es die Vorsitzende zusammen.
