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Interview mit Sozialpädagogin Lilo Lüling

In Rosenheim gibt es so viele Obdachlose wie noch nie – warum es jeden Bürger treffen kann

Die Zahl der Obdachlosen in Rosenheim steigt. Um die Unterbringung kümmern sich unter anderem Sozialpädagogin Lilo Lüling und ihre beiden Kolleginnen. Sie arbeiten im Bereich Wohnungsnothilfe des Diakonischen Werks.
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Die Zahl der Obdachlosen in Rosenheim steigt. Um die Unterbringung kümmern sich unter anderem Sozialpädagogin Lilo Lüling, Helga Haber und Linda Reinicke. Sie arbeiten im Bereich Wohnungsnothilfe des Diakonischen Werks.

Steigende Kosten, kein bezahlbarer Wohnraum und eine Kündigung wegen Eigenbedarf: Es gibt viele Gründe, warum Menschen in die Obdachlosigkeit abrutschen können. Die Lage in den Unterkünften in der Stadt ist angespannt - und es könnte noch schlimmer werden.

Rosenheim - Die Obdachlosenunterkünfte in der Stadt platzen aus allen Nähten. Weil bezahlbarer Wohnraum in Rosenheim Mangelware ist, scheint eine Lösung vorerst nicht in Sicht. Das weiß auch Sozialpädagogin Lilo Lüling. Sie leitet den Bereich Wohnungsnothilfe des Diakonischen Werks Rosenheim. Im Interview spricht sie über die aktuelle Situation, warum sie mit Sorge in die Zukunft blickt und warum die Politik schnellstmöglich handeln muss.

Hat die Obdachlosigkeit in der Stadt zugenommen?

Lilo Lüling: „Wir merken nach wie vor eine Zunahme in Stadt und Landkreis. Es gibt viele Gründe, warum Menschen in die Obdachlosigkeit rutschen. Mietschulden, erhöhte Energiekosten, Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder die Einkommensarmut sind da nur einige Beispiele. Bei Einzelpersonen kommen häufig noch psychische Krankheiten oder eine Suchterkrankung hinzu. Die Menschen befinden sich in einer Lebenskrise und einer Dauerüberforderung. Sie können die wichtigsten Dinge nicht mehr erledigen.“

Es scheint, als ob jeder in die Obdachlosigkeit abrutschen kann.

Lüling: „Genau. Es gibt immer viele Vorurteile Obdachlosen gegenüber. Aber jeder Mensch kann krank werden, in eine Krise kommen, die Arbeit verlieren oder sich vom Partner trennen. Es kann uns allen passieren.“

Gibt es konkrete Zahlen?

Lüling: „In den vier Obdachlosenunterkünften, die die Diakonie sozialpädagogisch betreut, haben wir 75 Plätze. Und wir sind ungefähr zu 90 Prozent belegt.“

Ist das normal?

Lüling: Nein. Das ist nicht normal. Ich bin schon seit 20 Jahren in diesem Bereich. Es gab Zeiten, da waren die Unterkünfte teilweise nur zur Hälfte belegt. Mit einer Belegung von durchschnittlich 75 Prozent der zu Verfügung stehenden Unterbringungsmöglichkeiten hat man noch Spielraum und schaut, wo Platz ist. Bei einer Belegung von durchschnittlich 90 Prozent hat man keinerlei Wahlmöglichkeiten.“

Was passiert, wenn neue Menschen dazukommen, die dringend einen Platz benötigen?

Lüling: „Das ist das größte Problem, sowohl für die Stadt als auch für die Diakonie. Die Unterkunftsplätze reichen nicht mehr aus. Die Stadt sucht verzweifelt nach Objekten, in denen man noch eine Unterkunft einrichten kann. Wir haben in der Königsseestraße eine Herberge für akut Obdachlose mit insgesamt acht Plätzen. Die Unterkünfte sind nur für Bürger der Stadt Rosenheim, die Herberge ist für alle Menschen, die ohne den Unterschlupf die Nacht auf der Straße verbringen müssten.“

Die Herberge in der Königsseestraße ist immer zu 100 Prozent belegt. Es müssen sogar Matratzen im Aufenthaltsraum und Flur ausgelegt werden, um den Bedarf zu decken.

Lassen Sie mich raten, die Herberge ist voll?

Lüling: „Seit Ende letztem Jahres haben wir in der Herberge immer 100 Prozent Belegung oder mehr. Heißt: Wir haben acht Betten, müssen aber Matratzen im Aufenthaltsraum und Flur auslegen, um den Bedarf zu decken. Auch die Räume im alten Gesundheitsamt, die im Winter als Kälteschutz dienen, gibt es jetzt das ganze Jahr über, weil die Stadt verpflichtet ist, die obdachlosen Menschen irgendwo unterzubringen, es aber einfach keine Plätze gibt.“

Wie lange leben Menschen in der Regel in den Unterkünften?

Lüling: „In den Anfängen hatten wir beispielsweise für Familien eine durchschnittliche Aufenthaltsdauer von bis zu neun Monaten. Jetzt sind wir bei vier Jahren. Es gibt keine zeitliche Begrenzung mehr. Sozialwohnungen sind Mangelware. Und wenn es einen passenden Wohnungsvorschlag auf eine Sozialwohnung gibt, dann muss die Stadt immer fünf Parteien auf eine Wohnung vorschlagen. Dass dann die Wahl auf jemanden fällt, der in einer Obdachlosenunterkunft wohnt, ist eher unwahrscheinlich.“

Also ist die Chance, dass man aus einer Obdachlosenunterkunft irgendwann wieder rauskommt, eher gering?

Lüling: „Korrekt. Wir unterstützen die Leute bei der Wohnungssuche, aber wenn man über Monate nur Absagen oder gar keine Reaktionen bekommt, resigniert man irgendwann. Hinzu kommt, dass es kaum noch Angebote gibt. Und wenn es Angebote gibt, bewerben sich 80 Parteien drauf. Für uns Mitarbeitende ist es wahnsinnig frustrierend. Es gibt keine sozialen oder günstigen Wohnungen mehr. Früher sind wir jede Woche die Wohnungsangebote mit den Leuten durchgegangen, jetzt sind wir froh, wenn alle zwei Wochen mal ein Angebot übers Internet reinkommt, das noch bezahlbar ist. Früher haben wir mit den Leuten Training gemacht, wie man beim Vermieter anruft, wie man sich darstellt und was man sagt. Das müssen wir im Moment nicht machen. Eben weil es keinen Wohnraum gibt.“

Neben dem fehlenden Wohnraum mangelt es auch an Pflegeplätzen.

Lüling: „Der Bedarf an Plätzen für pflegebedürftige Menschen wächst. Allerdings sind die Obdachlosenunterkünfte dafür nicht ausgelegt. So ist eine Barrierefreiheit beispielsweise nicht gegeben. Das ist auch deshalb ein Problem, weil die Menschen in den Unterkünften immer älter werden und irgendwann pflegebedürftig werden. Auch das treibt uns im Moment sehr um.“

Obdachlosenunterkünfte für Frauen sind in der Stadt Mangelware. Dabei gibt es auch hier einen Anstieg.

Lüling: „In der Herberge gibt es ein Zimmer mit zwei Betten, das wir für Frauen freihalten. Zudem gibt es eine Damentoilette. Aber die Duschen teilen sich die Frauen mit den Männern. Die Unterkünfte sind nicht frauenspezifisch ausgerichtet. Für eine Frau in einer Herberge ist es immer schwierig. Deshalb nehmen sie oft eher schlimme Wohnverhältnisse auf sich, bevor sie den Schritt auf die Straße machen. Aber es stimmt. Noch vor ein paar Jahren war es ganz selten, dass eine Frau in die Herberge gekommen ist, jetzt passiert es fast täglich.“

Bräuchte es also nicht auch eine extra Unterkunft für Frauen?

Lüling: „Es hängt von der Größe der Kommunen ab. München und Augsburg haben selbstverständlich Angebote für Frauen. Je kleiner die Kommune, desto schwieriger ist es. Aber grundsätzlich fände ich ein Angebot nur für Frauen wichtig. Gerade bei Frauen kommt es oft vor, dass sie traumatisiert sind. Und genau die gehen nicht in eine Herberge, sondern bleiben in einer untragbaren Situation. Eben weil die Herberge schlimmer wäre.“

Hinzu kommt, dass der Standard in Obdachlosenunterkünften eher gering ist.

Lüling: „Das ist leider normal. Was gesetzlich vorgeschrieben ist zur Unterbringung Obdachloser ist im Prinzip ein Witterungsschutz, der beheizbar ist. Eine Heizung muss aber nicht drin sein. Da ist so gut wie nichts vorgeschrieben. Die Unterbringung ist in der Regel im Doppelzimmer. Das ist schwierig, wenn man persönliche Probleme hat und dann mit jemanden im Zimmer ist, der auch persönliche Probleme hat. In einer unserer Obdachlosenunterkünfte leben beispielsweise 16 Personen, die sich drei Bäder und eine Küche teilen. Von den 16 Menschen habe alle Probleme. Das führt immer wieder zu Streitereien. Zudem sind Hygiene und Sicherheit ein Thema. Konflikte nehmen nicht nur unter den Bewohnerinnen und Bewohnern zu, auch unsere Mitarbeitenden sind vermehrt mit kritischen teilweise gefährlichen Situationen konfrontiert. Hier müssen wir dringend handeln und arbeiten gemeinsam mit der Stadt an einem Sicherheitskonzept.“

Kümmern sich um die Unterbringung der Obdachlosen: (von links) Helga Haber, Lilo Lüling und Linda Reinicke.

Gibt es Ideen, um die Obdachlosigkeit in den Griff zu bekommen?

Lüling: „Eine Lösung ist momentan weiter weg als sonst. Wir haben seit Jahren vor einer solchen Entwicklung gewarnt. Es gibt keine Sozialwohnungen mehr, der soziale Wohnungsbau liegt brach, gemeinnützige Wohnungen wurden verkauft. Der Mietmarkt ist nur noch Kapitalanlage. Es gibt viel zu wenig geförderten Wohnraum. Selbst in der Stadt gibt es kaum noch Wohnungen, die bezahlbar sind. Und an dieser Entwicklung kann auch die soziale Arbeit nichts ändern. Die Politik muss handeln - auch die kommunale Politik. Es braucht mehr sozialen Wohnraum. In den Unterkünften stockt es. Zudem braucht es zusätzliche Obdachlosenunterkünfte. Aber immerhin gibt es seit 2022 eine Bundesstatistik darüber, wie viele wohnungslose Menschen in Deutschland es gibt.“

Das ist ein Scherz, oder?

Lüling: „Die Zahlen, die es bisher gab, kamen von den Dachverbänden von den Trägern der Angebote, die jedes Jahr Schätzungen gemacht haben. Erst seit 2022 könnte in einem Armutsbericht auch die Zahl der Wohnungslosen genannt werden. Diese Zahlen beinhalten jedoch nicht, wer tatsächlich auf der Straße lebt und die große Dunkelziffer, wer noch irgendwo schläft und noch keine Wohnung hat.“

Also gibt es auch in Rosenheim eine Dunkelziffer?

Lüling: „Ja. Wir bieten in der Herberge in der Königsseestraße Postadressen an für Menschen, die noch irgendwo untergekommen sind, aber sich nicht polizeilich irgendwo melden können. Da haben wir immer um die 70 Adressen. All diese Zahlen erscheinen nicht. Gleiches gilt für Frauen, die in unsäglichen Situationen leben, weil es einfach kein Angebot gibt, wo sie hingehen wollen würden.“

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