Von Kiew nach Rosenheim
„Zwei Brüder meines Mannes wurden getötet“: Kristina P. über ihr Leben nach der Flucht
365 Tage ist es her, seitdem die Truppen Putins die Ukraine angegriffen und den Krieg zurück nach Europa gebracht haben. Mehr als 860 Ukrainer sind seitdem nach Rosenheim geflüchtet. Eine von ihnen ist Kristina P. (22). Jetzt erzählt sie ihre Geschichte.
Rosenheim - Hinter Kristina P. (22) liegt ein Jahr voller Leid, Zerstörung und Tod. Seit dem 13. März 2022 lebt sie mit ihrer Großmutter, ihrer Tante und ihrer Schwester sowie den Katzen Archie, Bruno, Kappa und Hund Oskar in Rosenheim. Anlässlich des traurigen Jubiläums, erzählt die 22-Jährige die Geschichte ihrer Flucht aus Kiew und beschreibt, was sie denkt und fühlt:
Telefone haben pausenlos geklingelt
„Nie werde ich den 24. Februar 2022 vergessen, als mein Mann und ich um circa 5 Uhr aufwachten, weil unsere Telefone pausenlos klingelten. Unsere Familie wollte uns warnen, da die Invasion durch russische Truppen begonnen hatte. Wir standen schnell auf, nahmen unsere Dokumente, meinen Laptop und setzten unsere beiden Katzen Kappa und Bruno in Transportboxen. Ungefähr eine Stunde später wurde eine Bombe in der Nähe unseres Hauses abgeworfen.
Wir wohnten am rechten Ufer von Kiew und wollten dringend die Brücke über den Fluss Dnipro überqueren, um zu unserer Familie zu gelangen. Aufgrund des schrecklichen Verkehrs konnten wir erst nachmittags durchkommen. Zu dieser Zeit begann man bereits, die Brücken zu sperren. Unter Sirenengeheul erreichten wir schließlich das Haus meiner Familie um 16 Uhr.
Sirenengeheul und Geräusche von Explosionen
Die erste Nacht hielten wir uns im Keller des Hauses auf, aber das war nicht sicher, weil er nicht als Schutzraum vorgesehen war. Die nächsten drei Tage verbrachten wir dann in einem Luftschutzbunker bei ständigem Sirenengeheul und Geräuschen von Explosionen. Wir schliefen in unseren Kleidern auf Holzpaletten und es war sehr kalt.
Eigentlich wollten wir am 25. Februar in die Westukraine flüchten, aber die Staus waren unglaublich lang und es gab lange Warteschlangen an den Tankstellen. In 24 Stunden kam man nicht einmal 200 Kilometer vorwärts. Vom 25. Februar abends bis zum 27. Februar gab es eine Ausgangssperre – in Kiew suchte man nach russischen Saboteuren und Erkundungstruppen. Am 27. Februar trennten sich die Wege meines Mannes und mir aufgrund der Kriegssituation. Er ging zu seiner Familie, da Männer nicht ausreisen durften.
Auf der Flucht mit drei Katzen und einem Hund
Wir vier Frauen flüchteten mit den Tieren aus zwei Haushalten – drei Katzen und ein Hund – Richtung Westen. Zu diesem Zeitpunkt wollte ich alles andere als flüchten, aber ich realisierte, dass ich auf meine Familie aufpassen und sie schützen musste, insbesondere meine jüngere Schwester und Großmutter, die aufgrund des Schocks durch den Kriegsbeginn wie paralysiert schien und die Realität nicht mehr erkennen wollte. Auch den Tieren, die bei jeder neuen Explosion zitternd in den Ecken kauerten, wollte ich diese Situation nicht weiter zumuten.
Am 28. Februar starteten wir von Kiew und fuhren zur Stadt Khust – es waren circa 16 Stunden in einem Konvoi von Autos ohne Halt – durch kleine Städte und über Nebenstraßen. Diese Fahrt wurde von Mitgliedern der Evangelischen Kirche organisiert. Unsere Route konnte sich jede Sekunde ändern, da zu dieser Zeit bereits harte Kämpfe in den Außenbezirken von Kiew – Bucha, Irpin, Hostomel, Brovary – stattfanden.
Zusammentreffen mit russischen Truppen sollte vermieden werden
Überall versuchte man an den sogenannten „Checkpoints“ die Routen anzupassen, um mögliche Zusammentreffen mit russischen Truppen zu vermeiden. Nach dem neunten Checkpoint hörte ich auf, zu zählen. Am 1. März passierten wir die rumänische Grenze. Dann ging unsere Reise mit dem Bus nach Polen weiter und in den nächsten fünf Tagen lebten wir in diesem Bus mit unseren drei Katzen und einem Hund.
Probleme mit den Pässen
An einer der Raststellen fiel meine Großmutter die Treppe herunter und blutete stark am Kopf. Ich erinnere mich daran, wie ich versuchte, das Blut zu stillen und ich einfach froh war, dass sie lebte und sich nichts gebrochen hatte. Sie selbst lächelte nur, weil sie nicht verstand, warum wir uns Sorgen machen, da sie noch immer vor Stress wie gelähmt war. Am 3. Februar passierten wir die ungarische Grenze – dort hatten wir zunächst Probleme aufgrund einiger Pässe und sie wollten uns zuerst nicht durchlassen.
Am 5. März kamen wir spätabends in Warschau an, wo wir bei einer polnischen Familie untergebracht wurden, die uns sehr freundlich empfing und uns mit dem Nötigsten versorgte. Wir erholten uns ein wenig und am 9. März fuhren wir mit dem Bus und Zug weiter nach Berlin und von dort nach München.
Unterbringung in einer Turnhalle in München
Am 10. März kamen wir in München in einem Flüchtlingslager unter – in der Turnhalle einer Schule. Es war nicht einfach – viele Menschen und mehrere Haustiere lebten dort. Einige waren allergisch gegen Tiere und meiner Großmutter ging es sowieso nicht gut – sie hatte immer wieder starke Schwindelanfälle. Aber wir hatten Glück – nach nur Tagen fanden wir durch eine private Flüchtlingsinitiative aus München und Rott am Inn Menschen in Rosenheim, die ausdrücklich Flüchtlingen mit Haustieren helfen wollten.
Integration in die deutsche Gesellschaft
Diese Menschen haben uns vom ersten Tag an in allen Lebensbereichen unterstützt und wir sehen sie mittlerweile als einen Teil unserer Familie. Sie haben uns sehr geholfen, uns in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Mittlerweile besuchen wir Integrationskurse, meine jüngere Schwester geht hier zur Schule und ich hoffe, hier auch bald arbeiten zu können. Nach meiner Ankunft in Rosenheim habe ich sogar online mein Studium an der Universität Kiew fortsetzen können und meinen Abschluss als Konstrukteurin Maschinenbau im Herbst 2022 erfolgreich absolviert.
Fluchtversuch der Großmutter
Meine Großmutter jedoch leidet sehr – sie kann sich einfach nicht damit abfinden, dass sie nicht mehr in ihrer geliebten Heimat sein kann und würde am liebsten sofort wieder zurückgehen. Einmal hat sie es sogar probiert, ist aber kurz vor der Grenze wieder zurückgekehrt und genau am nächsten Tag wurde Kiew wieder bombardiert.
Während unserer Zeit in Rosenheim sind in der Ukraine furchtbare und für uns unfassbare Dinge passiert. Dies betraf auch unsere Familie. Zwei Brüder meines Mannes wurden im Kampf um die Befreiung der durch die russische Föderation besetzten Gebiete getötet. Der ältere Bruder wurde bei dem Versuch getötet, die Russen von einer weiteren Offensive in Richtung Zaporizhzhia abzuhalten. Der zweite Bruder starb bei der Befreiung der Region Kherson, kurz bevor die ukrainische Armee die Stadt Kherson zurück erobern konnte.
Luftalarm auf dem Handy installiert
Nun ist ein Jahr vorbei, aber diese Zeit ist verronnen wie ein Nebelschwaden. Jeden Tag wache ich auf und schlafe ein mit den Nachrichten aus der Ukraine und auf meinem Handy habe ich noch immer den Luftalarm für Kiew und die Region installiert. Mein größter Wunsch ist, dass der Krieg, der für uns bereits im Jahr 2014 mit der Annexion der Krim begann, mit dem Sieg der Ukraine und der Befreiung der besetzten Gebiete endet und dass ein solcher Krieg niemals wieder passieren wird.“