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Ein Jahr nach Kriegsbeginn in der Ukraine

Wenn Luftalarm den Unterricht zerreißt: Wie Geflüchtete in Mühldorf zwischen zwei Welten leben

Alla Boitschenko blättert in einem Jahrbuch des Ruperti-Gymnasiums. Darin sind Jugendliche abgebildet, die wie ihre Lehrerin vor dem Krieg geflohen sind.
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Alla Boitschenko blättert in einem Jahrbuch des Ruperti-Gymnasiums. Darin sind Jugendliche abgebildet, die wie ihre Lehrerin vor dem Krieg geflohen sind.

Vor einem Jahr hat Russland die Ukraine überfallen, seit dieser Zeit leben ukrainische Flüchtlinge auch in Mühldorf. Viele leben zwischen zwei Welten, wie das Beispiel von Alla Boitschenko zeigt.

Mühldorf - Den Krieg sieht man Alla Boitschenko nicht an. Sie trägt ein chices beigefarbenes Wollkleid, Schmuck, sie ist geschminkt, gut frisiert. Sie sieht nicht aus, wie eine Frau, die vor dem Krieg geflohen ist. Aber man kann den Krieg hören, wenn sie spricht. Es ist ihr erster Satz: „Jeden Tag sterben Ukrainer.“ Die Pause, die sie macht, ist nur kurz: „Und jeden Tag sterben Russen.“ Wenn sie über ihre Heimat spricht, verändert sich ihre Gesichtsfarbe. Es bewegt sie sichtlich.

Es bewegt auch ihre Schüler, die tausend Kilometer entfernt von Bombeneinschlägen und Granatenexplosionen im Ruperti-Gymnasium lernen. Denn sie haben eine App. Die meldet sich bei Luftalarm, wenn sich russische Marschflugkörper Kiew oder Charkiw nähern, wenn Kampfflugzeuge Leiden und Tod bringen. Dann kommt der Krieg mitten im Schulunterricht an.

Die Kinder wollen leben, Spaß haben

Vor Boitschenko liegt das letzte Jahrbuch des Gymnasiums auf dem Tisch. Sie blättert darin, bis sie ein Foto findet. Es zeigt 20 Jugendliche. Sie sind zwischen 14 und 16 Jahre alt und gehen in die Brückenklasse der Mühldorfer Schule. Sie sind mit ihren Eltern vor dem Krieg geflohen.

Trotz des Verlusts der Heimat, trotz der Warn-App auf ihren Mobiltelefonen sagt Boitschenko: „Die Kinder nehmen alles, wie es ist. Sie wollen sich unterhalten und Spaß haben, leben.“

Es ist ein Leben dazwischen, das viele Jugendliche und Erwachsene führen, die seit dem vergangenen Februar nach Deutschland gekommen sind. So wie Alla Boitschenko. Sie hat ihre beiden Söhne mitgebracht, als sie zu einer Freundin nach Mühldorf floh. Ihr Mann musste bleiben. Er ist zwar kein Soldat, wird aber vielleicht in einer der nächsten Einberufungswellen gebraucht.

So viel Liebe bekommen

Die Söhne sind 11 und 16 Jahre alt, auch sie leben zwischen den Welten. Der Jüngere ist in Mühldorf schon fast zu Hause, sagt seine Mutter. Er ist gerne in seiner Schulklasse an der Grundschule Mühldorf, hat mit dem FC Mühldorf am Wochenende ein Hallenturnier bestritten, spricht schon gut Deutsch. „Es ist für ihn so viel Freude, er hat so viel Liebe bekommen“, sagt seine Mutter. Er will bleiben.

20 Kinder aus der Ukraine sind es derzeit in der Grundschule, sagt Rektor Martin Wiedenmannott. Von ihren Mitschülern seien die Kinder gut aufgenommen worden, der Krieg in der Ukraine werde von den Klassenlehrern im Unterricht thematisiert. „Die Kinder denken sich nichts dabei, wenn anderssprachige Schüler dazu kommen, das sind sie gewohnt“, sagt Wiedenmannott. „Unsere russischstämmigen Schüler sind top, sie dolmetschen für die Neuankömmlinge aus der Ukraine, was im Unterricht natürlich enorm hilfreich ist.“

Rückkehr oder in Deutschland bleiben

Der ältere Sohn von Alla Boitschenko ist mit seinen Gedanken dagegen häufiger in der Heimat. Dort lebt seine Freundin. Er möchte zurück, am liebsten sofort. Seine Mutter schüttelt den Kopf. In zwei Jahren droht ihm der Militärdienst

Sehr schnell wieder Deutsch gelernt

Die 43-Jährige kann ihre Gedanken sehr präzise formulieren. Sie hat in der Ukraine Deutsch und Literatur studiert und als Verwaltungsmitarbeiterin an einer Schule gearbeitet. Die deutsche Sprache hat sie in dieser Zeit nicht mehr benutzt, 20 Jahre lang kein Wort gesprochen. Und jetzt, im Jahr nach ihrer Flucht, doch sehr schnell und sehr gut wieder gelernt.

So gut, dass sie die Brückenklasse am Gymnasium unterrichtet, täglich spürt, wie es den Jugendlichen geht. Vor allem Deutsch, auch Mathematik und Englisch lernen die Kinder, eingeschult nur nach dem Alter, nicht nach Talent. Die jüngsten gehen in die Brückenklassen der Grundschule, die älteren in die Mittelschule und ab 14 ins Gymnasium.

Die Grundschüler machen sprachlich schnell Fortschritte, weiß Grundschulrektor Wiedenmannott. In Mathematik seien die kleinen Ukrainer oft sehr gut, in Heimat- und Sachkunde die sprachlichen Hürden für das Verständnis größer. Sie durchgängig zu fördern, sei nicht einfach. „Es gibt viel Wechsel. Wenn Schüler neu zuziehen, müssen wir immer erst schauen, wo sie in ihrer Ausbildung stehen.“

Nur wenigen gelingt der Übergang in den Regelunterricht

Gymnasiums-Direktorin Christine Neumaier weiß, wie schwer es für die Kinder ist, in den Regelschulbetrieb zu wechseln. Das sind, betont die Direktorin, nur die wenigsten. Sie spricht von zwei Schülern.

Denn die Jugendlichen sind nicht nur intellektuell gefordert, sondern vor allem emotional, sagt die Direktorin. Wenn schlechte Nachrichten von Angehörigen kommen, von Brüdern, die im Krieg sterben, dann nimmt das die jungen Leute und ihre Lehrerinnen mit. „Die Schülerinnen und Schüler müssen nicht nur das Deutschproblem bewältigen“, sagt sie. Grundschulrektor Wiedenmannott spricht von drei Jugendsozialarbeiterinnen, die den Kindern in der Grundschule zur Seite stehen können.

Lernen für eine Rückkehr

Alla Boitschenko sagt: „Es ist nicht so leicht, sich ein neues Leben einzurichten, sich zu etablieren, zu lernen.“ Sie kennt Menschen, die schon nach wenigen Wochen in die Ukraine zurückgekehrt seien. Andere hätten alles verloren. Die zöge nichts mehr nach Hause, sagt Boitschenko.

Ihr hilft das Angenommen sein in Mühldorf, die „heiße Aufnahme“, wie sie es nennt, „die viele Wärme“, mit der sie empfangen worden sei. „Ich finde sehr viel Verständnis.“ Sie will für sich, für ihre Söhne, für ihre Schüler die Chancen nutzen, die ihr Deutschland bietet. Einen Beruf lernen, studieren, den Blick weiten, europäisch werden. „Wir wollen die Kinder vorbereiten für den Wiederaufbau, damit sie mit einer neuen Sichtweise nach Hause zurückkehren.”

Wann endet der Krieg?

Wann das sein wird? Boitschenko zuckt die Schultern. Es ist einer der Momente, in denen die Belastung in ihrem Gesicht sichtbar wird. Vielleicht, so hofft sie, endet der Krieg noch in diesem Jahr. Die Rückkehr zur Normalität aber werde viele, viele Jahre dauern.

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