Spurensuche zum „Thinking Day“ am 22. Februar
„Allzeit bereit!“: Wieso die Wurzeln der deutschen Pfadfinder-Bewegung auch in Kolbermoor liegen
Pfadfinder weltweit begehen am 22. Februar, dem Geburtstag ihres Gründers Robert Baden-Powell, den „Thinking Day“. Dass die Pfadfinderbewegung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Fuß fassen konnte, ist aber Alexander Lion zu verdanken, der einst in Kolbermoor um sein Leben fürchten musste.
Kolbermoor/Bad Aibling – Es ist kein Zufall, dass der „Thinking Day“, der weltweite Gedenktag der Pfadfinderbewegung, deren Motto „Allzeit bereit!“ lautet, auf den 22. Februar fällt: Denn am 22. Februar 1857 wurde Robert Baden-Powell, britischer Kavallerie-Offizier, in London geboren. Wobei der Name Baden-Powell weniger mit seiner militärischen Laufbahn verbunden ist, als vielmehr damit, dass er 1907 die Bewegung der Pfadfinder ins Leben gerufen hatte.
Heute gehören weltweit rund 54 Millionen Menschen den Pfadfindern, die sich in unterschiedlichen Verbänden organisieren, an. In Deutschland sind mit der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg (DPSG), dem Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP), dem Verband Christlicher Pfadfinder (VCP), der Pfadfinderinnenschaft St. Georg (PSG) und dem Bund muslimischer Pfadfinderinnen und Pfadfinder Deutschlands (BMPPD) fünf große Verbände bekannt, in denen sich rund 170.000 Mitglieder engagieren. Doch auch wenn sich Kleidung und Riten oftmals unterscheiden, eines haben sie doch alle gemein: Ihre Wurzeln, die bis ins Mangfalltal reichen.
Alexander Lion und Maximilian Bayer erwecken die Pfadfinder wieder zum Leben
Denn die Geschichte der deutschen Pfadfinder ist untrennbar mit dem Namen Alexander Lion verknüpft, der viele Jahre in Kolbermoor und Bad Aibling gelebt hatte. Lion, 1870 in Berlin geboren, hatte gemeinsam mit Maximilian Bayer nach dem Zweiten Weltkrieg die während der Nazizeit verbotene deutsche Pfadfinderbewegung wieder zum Leben erweckt. Wobei Lion, Kind jüdischer Eltern, vor allem in seiner Zeit im Mangfalltal immer wieder um sein Leben fürchten musste. Dass der studierte Arzt – im Gegensatz zu weiteren Familienmitgliedern – die Nazi-Gräueltaten zumindest physisch unbeschadet überstanden hatte, lag nicht zuletzt an einem NSDAP-Mitglied aus Kolbermoor.
Am 15. Dezember 1870 als drittes von zehn Kindern einer jüdischen Bankiersfamilie geboren, wandte sich Lion nach seiner Schulzeit am Gymnasium dem Studium der Medizin zu. 1893 als Freiwilliger in die Bayerische Armee eingetreten, diente der gebürtige Berliner, der bereits im Alter von 16 Jahren den jüdischen Glauben abgelegt hatte, während des Aufstands der Herero und Nama als Stabsarzt in Deutsch-Südwestafrika, was heute als Namibia bekannt ist.
Ein Artikel in der „Times“ gibt den Ausschlag
Die Faszination für die Pfadfinderbewegung manifestierte sich bei Lion, als er im Jahr 1908 in der englischen Tageszeitung „Times“ einen Beitrag mit dem Titel „Pfadfinden als Sport“ („Scouting as a sport“) las und dadurch auf den Gründer der Pfadfinder, Robert Baden-Powell, aufmerksam wurde. Nur wenige Monate später begab sich Lion auf Studienreise nach England, um Baden-Powell persönlich kennenzulernen.
So sollte das Thema Pfadfinder eines seiner großen Lebensinhalte werden – und ihn zeit seines Lebens nicht mehr loslassen. Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er unter anderem als Chefarzt eines Feldlazaretts eingesetzt war, ließ er sein Engagement für die Pfadfinderbewegung in Deutschland zwar zunächst ruhen, nahm aber ab 1928 vermehrt Kontakt mit dem „Bund der Reichspfadfinder und Späher“ auf.
Wobei es sich aber bereits zu dieser Zeit abzeichnete, dass seine jüdische Vergangenheit in den kommenden Jahren ein Leben am seidenen Faden bedeuten sollte. So verlor Alexander Lion 1935 aufgrund der Nürnberger Rassengesetze seine Bürgerrechte, musste im Zuge der NS-Judenpolitik seinen Namen mit dem weiteren Vornamen „Israel“ ergänzen. Als den Nationalsozialisten dann 1938 ein Brief Lions in die Hände fiel, in dem er sich über die „unterdrückten Pfadfinder Deutschlands“ beschwerte, wurde er von der Gestapo verhaftet und musste anschließend eine zehnmonatige Haftstrafe absitzen.
Die Folgejahre sollten für Lion und dessen Frau Mathilde, die fortan zurückgezogen in Pullach bei Kolbermoor und Willing bei Bad Aibling leben sollten, dann zur bedrückendsten Zeit ihres Lebens werden. Aus Aufzeichnungen des Initiators des Kolbermoorer Heimat- und Industriemuseums, Horst Rivier, die heute noch dort zu finden sind, geht hervor, dass vor allem der damalige Bürgermeister Josef Fleischmann, Mitglied der NSDAP, seine schützende Hand über das Ehepaar Lion gehalten hatte.
Aussage Lions wird an die Nationalsozialisten weitergetragen
So hatte Fleischmann nicht nur dafür gesorgt, dass Lion trotz seiner jüdischen Abstammung bei der Ausgabe von Lebensmittelmarken nicht benachteiligt wurde. Fleischmann hatte wohl auch toleriert, dass Lion, anders als andere Menschen mit jüdischen Wurzeln, seinen Judenstern nicht an der Kleidung tragen musste.
Besonders brenzlig wurde es für Alexander Lion im Juni 1942, als eine Bemerkung des studierten Arztes über die Ausgabe von Lebensmitteln den Nationalsozialisten zugetragen wurde. So wollte Lion damals bei einer Frau in Aibling etwas zusätzliche Butter kaufen, wie im 2017 veröffentlichten Buch „Alexander Lion – Arzt, Sanitätsoffizier, Pfadfinder“ von Harmut Bartmuss festgehalten ist. Daraufhin sei er von der Verkäuferin mit den Worten „Die Soldaten haben auch keine Butter“ abgefertigt worden, was Lion wiederum mit den Satz „Die Soldaten sind junge, kräftige Kerle“ kommentierte.
Eine Aussage, die als „Beleidigung der Wehrmacht“ gewertet wurde und dazu führte, dass sich ein regimetreuer Mob auf nach Pullach machen sollte, um den Juden Lion zu lynchen. Doch Fleischmann, Bürgermeister Kolbermoors und selbst Mitglied der NSDAP, warnte Lion und brachte ihn in Sicherheit.
„Dem Dr. Lion riet ich, möglichst sofort in eine Nachbargemeinde zu ziehen, wo es keine SA oder nur wenige gab; ich vermittelte ihm in Willing/Mitterham eine Zufluchtsstätte“, erinnerte sich Fleischmann, wie Riviers Aufzeichnungen im Museum zu entnehmen ist. „Hätte die Gestapo von dieser Äußerung der Lions erfahren, es wäre für Dr. Lion sehr verhängnisvoll gewesen.“ Lion habe ihn daher auch in vielen Briefen „seinen Lebensretter“ genannt, „denn er wusste wohl, was ihm gedroht hätte“. Ihn selbst habe der „Vorwurf, dass ich Juden schütze, nicht beleidigen“ können, wie Fleischmann in seinen Ausführungen betonte.
Darum ist eine Ehrung Alexander Lions durch die Stadt Kolbermoor „unmöglich“
Dass die Organisation der Pfadfinder, die es in Form der DPSG St. Franziskus auch in Kolbermoor gibt, „ein wertvoller Bestandteil der Gemeinschaft ist“, steht für Kolbermoors Bürgermeister Peter Kloo außer Frage. „Die Stadt begrüßt solche Formen sozialen Engagements junger Menschen“, macht der Rathauschef auf OVB-Anfrage deutlich.
Dass es zu Ehren Alexander Lions irgendwann eine Straße mit dessen Namen geben könnte, hält Kloo hingegen für nahezu ausgeschlossen. So sei es aus seiner Sicht heute „nicht mehr zeitgemäß“, Straßen nach Personen zu benennen. „Oft ergeben sich bei genauerem Abfragen der Biografie eines Menschen sehr unterschiedliche Aspekte in einer Persönlichkeit“, begründet Kloo seine Aussage.
Dies sei auch bei Alexander Lion der Fall. Denn dieser war 1919 Mitglied des Freicorps Epp, eine der Keimzellen der NSDAP in Bayern, die sehr aktiv an der brutalen Niederschlagung der Räterepublik in Oberbayern beteiligt gewesen ist. Kloo: „Gerade die Mitgliedschaft im Freicorps Epp macht aus Sicht der Stadt Kolbermoor, die sich bemüht, die Erinnerung an Georg Schuhmann und Alois Lahn, die am 2. Mai 1919 von Freicorps-Mitgliedern brutal ermordet wurden, hochzuhalten, eine Ehrung unmöglich.“
So konnte das Ehepaar Lion die Terrorherrschaft der Nationalsozialisten – ganz im Gegensatz zu seinem Bruder Richard und dessen Ehefrau Beatrice, die im Konzentrationslager Bergen Belsen ermordet worden waren – zumindest ohne körperliche Schäden überstehen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs widmete sich Lion, zugleich als Leiter des Kreisjugendamtes Bad Aibling eingesetzt, mit vollem Engagement der Neugründung der Pfadfinderbewegung in Deutschland. Mit Erfolg: Am 31. Oktober erhielt er die erste Lizenz für die Gründung einer Pfadfindergruppe auf dem Gebiet des heutigen Landkreises Rosenheim.
Und auch das Wort „Pfadfinder“ hatte Lion als Bezeichnung der Mitglieder entscheidend geprägt. Wenn auch nicht erfunden, wie Dr. Stephan Schrölkamp aus Berlin, der bereits mehrere Bücher über Alexander Lion veröffentlicht hat und als ausgewiesener Experte für die Geschichte der deutschen Pfadfinderbewegung gilt, gegenüber dem OVB erklärt. „Der Name Pfadfinder war damals schon bekannt, hatte aber eine andere Bedeutung“, so Schölkamp, der Lion als den „Gründervater“ der Pfadfinder in Deutschland bezeichnet.
Wobei Schrölkamp vermutet, dass Lions jüdische Abstammung auch nach der Nazi-Herrschaft nachteilige Auswirkungen auf dessen Stand in der Gesellschaft hatte. „Es ist auffällig, dass Alexander Lion zeitlebens nie eine Leitungsfunktion innehatte, sondern immer nur beispielsweise als Ehrenpräsident geführt wird“, so der Autor, der selbst Pfadfinder ist und deutschlandweit Vorträge über die Geschichte der Pfadfinderbewegung hält.
Einer, der den „Pfadfinder-Gründervater“ Lion noch persönlich kennenlernen durfte, ist Georg Knabl, Seniorchef eines Umzugsunternehmens aus Bad Aibling. Knabl, heute selbst im Rentenalter, war als kleiner Pfadfinder-Bub Lion bei einem Zeltlager in Königsdorf bei Wolfratshausen begegnet. „Ich kann mich noch genau erinnern, wie Alexander Lion dort plötzlich in seiner Pfadfinder-Kluft aufgetaucht ist“, so Knabl, der sich erinnert: „Er war ja nicht groß, hatte aber eine große Ausstrahlung.“
Klare Botschaft der Pfadfinder: „Der Große schützt den Kleinen“
Für ihn sei Alexander Lion, der am 2. März 1962 in einem Altenheim nahe Augsburg gestorben war, heute zweifelsfrei „der Gründer der Pfadfinderbewegung in Deutschland“. Eine Bewegung, der er selbst gerne viele Jahre angehört hatte. „Die Bewegung ist natürlich in gewisser Weise aus dem Militär hervorgegangen, hat aber vor allem die positiven Seiten des Militärs wie Disziplin und Ordnung in den Vordergrund gestellt“, sagt Knabl, der am Pfadfindertum aber vor allein eine Sache schätzt, die damals und heute noch Gültigkeit hat:„Das Wichtigste der Bewegung spiegelt sich bereits im Pfadfindergruß wider, bei dem Zeige-, Mittel- und Ringfinger in die Höhe gestreckt werden und dann der Daumen über den kleinen Finger gelegt wird. Die Botschaft dahinter ist eindeutig; Der Große schützt den Kleinen.“


