„Wie Weihnachten ohne Christbaum“?
„Tradition über alles“? Disput um Böllerschüsse zum Kriegsopfer-Gedenken eskaliert – und verletzt
Der evangelische Pfarrer Rudolf Scheller wollte eigentlich nur eine Diskussion darüber anstoßen, wie zeitgemäß Böllerschüsse zum Gedenken an Kriegsopfer gerade in Zeiten diverser Konflikte wie der Ukraine noch sind. Als Ersatz schlug er Friedenstauben vor. Die empörte Reaktion darauf kostet ihn den Seelenfrieden.
Übersee – Eigentlich will Rudolf Scheller überhaupt nicht mehr über das Thema Böllerschüsse reden. „Ich will wieder schlafen können und meinen Seelenfrieden zurück“, sagt der evangelische Pfarrer der Gemeinde Übersee dem OVB. Er klingt traurig bei diesen Worten. Niemals hätte er die heftige Reaktion erwartet, die sein als Anregung zum Nachdenken gedachter Vorschlag bei der offiziellen Gedenkfeier zum Volkstrauertag in der ganzen Region ausgelöst hat.
„Wer diesen inneren Impuls, diesen Antrieb des „Nichtvergessens“ nicht spürt und in sich hat, sollte an diesen Tagen doch zu Hause bleiben und allen anderen diese Gedenkveranstaltungen nicht madig machen“, schrieb beispielsweise Sepp Kirner, Hauptmann der Gebirgsschützen-Kompanie Prien in einem Leserbrief an das OVB. Ein Salut an solchen Tagen der Erinnerung sei für viele traditionsbewusste Bürger nicht wegzudenken: „Wie Weihnachten ohne Christbaum und Mette, Ostern ohne Karfreitag, eine Hochzeit ohne Ringe und so weiter.“
Böllerschüsse Gegensatz zum friedlichen Erinnern an Kriegs-Grausamkeiten?
Scheller hatte in einer kurzen, spontanen Rede erklärt, dass er erschüttert sei, dass auch heute noch Böllerschüsse abgegeben würden, die doch in konträrem Gegensatz zum friedlichen Erinnern an die Grausamkeiten des Krieges stünden. Der Pfarrer betonte, dass dies seine eigene Meinung und nicht die der Kirche sei. Der Gottesmann schlug vor, friedlichere Symbole für das Gedenken an die Opfer zu finden – zum Beispiel das Aufsteigen von weißen Tauben. Sie gelten weltweit als Symbol des Friedens.
Was gerade „mit Blick auf die vielen Kriegsflüchtlinge in unserer Region“ als Start für eine offene Diskussion gedacht war, führte zu bösen Zwischenrufen und einer Serie von persönlichen Anfeindungen in der Folge. Scheller sah sich sogar gezwungen, ein Entschuldigungsschreiben im Überseer Gemeindeanzeiger zu verfassen. „Für alle, die sich auf den Schlips getreten fühlen“, wie Scheller sagt und konsterniert feststellt: „Man ist unten durch bei den Leuten, wenn man Tradition nicht über alles setzt.“
Perl: Was die Bevölkerung nicht mag
Auch Felix Perl hat den Disput um die Böllerschüsse mitbekommen. Er ist seit Februar Hauptmann der Gebirgsschützenkompanie in Bernau und vermutet, dass das generelle Hinterfragen von gesellschaftlichen Traditionen zur Explosivität in diesem Fall beigetragen hat. Ob beim Gendern oder der Verbannung bestimmter „rassistischer Begriffe“ aus der Öffentlichkeit. „Die Bevölkerung mag es nicht, wenn ihnen vorgegeben wird, was sie sagen dürfen und was Tradition ist“, sagt Perl im OVB-Gespräch: „Jede Kultur hat ihre Traditionen und wir sollten nicht alle beseitigen, nur weil sich ein paar Leute angestoßen fühlen. Schließlich sind Traditionen der Grundstock unseres Zusammenlebens.“
Er plädiert dafür, den Menschen die Hintergründe von Bräuchen zu erklären. Wie im Fall der Böllerschüsse. „Böllerschüsse und Salut haben früher nur Könige bekommen. Damit werden am Volkstrauertag beispielsweise die Opfer von Kriegen mit etwas geehrt, was sonst nur die Obrigkeit bekommen hat. Das ist eine ganz besondere Ehrerweisung und hat mit dem Krieg überhaupt nichts zu tun.“ Zudem verwies Perl darauf, dass sogar viele Gemeinden der Region eine Salutkanone für Gedenktage wie den Volkstrauertag samt geschultem Personal zur Bedienung vorhalten.
Bernau: Böllerkanone und Munition von Gemeinde finanziert
Ist Böllerschießen hierzulande also so tief verwurzelt, dass es quasi eine staatliche Aufgabe ist? Dem ist nicht ganz so, wie Andreas Lukas für die Gemeinde Bernau verrät. „Das ist eine freiwillige Aufgabe. Da geht es um Brauchtum und das wird von der Gemeinde gefördert“, erzählt der Geschäftsleiter dem OVB. Lukas bestätigt aber, dass die „Böllerkanone und die nötige Munition“ bezahlt werden. Es gehe dabei allgemein um die Unterstützung von Traditionen und sei nicht als Parteinahme im konkreten Fall „Böllerschüsse oder Friedstauben“ zu verstehen.
„Völlig überflüssig“ zu Tode erschreckt?
Auch wenn die Traditionalisten in diesem Fall lautstärker argumentieren, sind die Meinungen zum Thema in der Region durchaus gespalten. Als Scheller am Volkstrauertag seinen Vorstoß wagte, gab es auch Unterstützung aus dem Publikum. Einige Bürger erklärten, dass sie mit den Böllerschüssen nichts anfangen könnten und sagten, sie könnten diesen oft erschreckenden Lärm nicht ausstehen. Alte Leute erinnere es schmerzhaft an den Bombenalarm im Krieg, Kinder und Tiere würden „völlig überflüssig“ manchmal zu Tode erschreckt.
„Wir kommandierende Offiziere sind immer auf höchste Sicherheit bedacht, für unsere Schützen und die anwesenden Personen. Wenn Familien mit Kindern oder Hunde in der Nähe sind, weisen wir immer darauf hin, dass es gleich sehr laut wird“, antwortet der Priener Gebirgsschützen-Chef Kirner, der nach eigenen Aussagen noch nie eine Beschwerde erhalten hat: „Für uns ist es eine Selbstverständlichkeit, ein inneres Bedürfnis, den Ehrensalut zu schießen.“ Klingt nicht so, als hätten Friedenstauben eine Chance.
