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Stettener Lippnhof bei Tuntenhausen droht nach 529 Jahren das Aus

„Enteignet“ oder „betrogen“? Wie der Brenner-Nordzulauf den Kendlingers die Existenz raubt

Die Kendlingers – von links Sebastian junior, Rosalie, Rebecca, Anna und Sebastian – bewirtschaften den Lippenhof in Stetten seit vier Generationen. Mit dem Bau des Brenner-Nordzulaufs verlieren sie die Grundlage für ihre Biolandwirtschaft und damit ihre Existenz.
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Die Kendlingers – von links Sebastian junior, Rosalie, Rebecca, Anna und Sebastian – bewirtschaften den Lippnhof in Stetten seit vier Generationen. Mit dem Bau des Brenner-Nordzulaufs verlieren sie die Grundlage für ihre Biolandwirtschaft und damit ihre Existenz.

Der Lippnhof in Stetten hat Feldzüge und Kriege überstanden und seit 1494 unzählige Generationen ernährt. Den Beitrag der Deutschen Bahn zum Klimaschutz allerdings wird der Biobauernhof nicht überleben: Er fällt dem Brenner-Nordzulauf zum Opfer.

Tuntenhausen – Die Vorplanungen für den Brenner-Nordzulauf sind abgeschlossen , die Deutsche Bahn hat entschieden: In Ostermünchen wird im Kreuzungsbereich der Staatsstraße 2358 und der Straße nach Stetten ein barrierefreier Bahnhof mit Rampen, Park-and-Ride-Anlage und Bushaltestelle gebaut. Mit vier Neubaugleisen und streckenweise noch zwei zusätzlichen Überholgleisen zieht sich die Brenner-Trasse in der Gemeinde Tuntenhausen von Weiching über Stetten, Berg und Brettschleipfen bis nach Aubenhausen.

Mit dem neuen Bahnhof in Ostermünchen, der Park-and-Ride-Anlage, der vierspurigen Neubautrasse des Brenner-Nordzulaufs und streckenweise noch zusätzlichen Überholgleisen verliert Biobauer Sebastian Kendlinger den Großteil seiner Flächen.

Allein in der Gemeinde gehen dadurch 37,5 Hektar hochwertiger landwirtschaftlicher Flächen für immer verloren. Weitere schätzungsweise 16 Hektar für die Baustelle sind während der etwa zehnjährigen Bauzeit nicht nutzbar. Besonders hart trifft das die Landwirte – darunter auch Biobauer Sebastian Kendlinger vom Lippnhof in Stetten. Auf seinen gepachteten Flächen wird der neue Bahnhof gebaut. Seine eigenen, hofnahen Weiden in Stetten müssen der Neubautrasse weichen. Wie viel von den 46 Hektar Fläche, die er für den Hof mit mehr als 50 Milchkühen und Kälbern braucht, überhaupt übrig bleibt, weiß er bis heute nicht. Eines aber ist klar: „Wir verlieren die Grundlage für unsere Biolandwirtschaft“, sagt der 37-jährige Landwirt.

In vierter Generation auf dem Lippnhof

Die Kendlingers bewirtschaften den Lippnhof in vierter Generation. 1908 hatte ihn Sebastian Kendlinger (1877-1915) gekauft. Ihm folgten Sohn Sebastian (1911-1971), Enkel Sebastian (75) und Urenkel Sebastian (37). Doch die Geschichte des Lippnhofes reicht noch viel weiter zurück: „1494 wurde er erstmals urkundlich erwähnt, damals verkaufte ein Tiroler ihn ans Augustinerchorherrenstift Beyharting“, zitiert Wast Kendlinger die kunstvoll gestaltete Chronik.

Diese kunstvoll gestaltete Chronik (links) berichtet über die Geschichte des Lippnhofs in Stetten. Er wurde 1494 erstmals urkundlich erwähnt. Seit 1908 bewirtschaftet die Familie Kendlinger den Hof, die in den letzten sechs Zeilen (rechts) der Chronik verewigt wurde.

Auch Feldzüge und Kriege haben den Hof nicht verschont: „1632, 1646 und 1648 hatte er unter den Schwedenfeldzügen schwer zu leiden“, ist in der Chronik verewigt. Der erste Kendlinger auf dem Lippnhof kam aus dem Ersten Weltkrieg nicht zurück. Und doch haben über sechs Jahrhunderte lang zig Generationen von Bauern diesen Hof und die Landschaft erhalten sowie ihre Familien davon ernährt.

Investitionen in die Zukunft

Auch die heutigen Generationen der Kendlingers haben den Hof zukunftsfähig gemacht. Schon 1987 stellte Vater Sebastian auf Biolandwirtschaft um. „Wir haben einen sechsstelligen Betrag in einen modernen Stall investiert, Melkroboter angeschafft“, informiert Jungbauer Kendlinger: „Wir haben das alte Bauernhaus modernisiert, Austragswohnungen für die Eltern geschaffen, uns mit Mietwohnungen ein zweites Standbein geschaffen.“

Solange der Hof existiert, ist das Finanzkonzept stimmig. Mit dem Bau des Brenner-Nordzulaufs wird es das nicht mehr sein. „Uns wird die Grundlage für unseren Hof und damit die Grundlage für die Refinanzierung unserer Investitionen genommen“, macht Kendlinger klar: „Die Rinderhaltung wird damit in Frage gestellt, wir wären nicht mehr biokonform, das ist für unsere Familie existenzbedrohend.“

Weiden – so weit das Auge reicht. Sie gehören zum Biohof der Kendlingers und sind für den Austrieb der mehr als 50 Kühe und Kälber erforderlich.

Persönliche Schicksale spielen keine Rolle

Er ist enttäuscht, dass persönliche Schicksale keine Rolle in den Planungen spielen. „Wir haben hier in der Gemeinde alles immer im fairen Miteinander und Einvernehmen geregelt“, macht er klar. Für die Erweiterung des Sportplatzes in Berg wurden Grundstücke getauscht. Als Discounter sich für sein Land interessierten, hat Kendlinger abgelehnt, um die Biolandwirtschaft zu erhalten. „Doch die Bahn plant im Auftrag der Bundesregierung seit zehn Jahren einfach über die Köpfe der Menschen hinweg und bezieht dabei deren Eigentum mit ein, so als wäre es selbstverständlich, dass sich der Staat am Privateigentum bedienen darf“, stellt er fest.

Konkrete Planungen begannen schon 2012

Mit dem „Vertrag von Rosenheim“, der Ressortvereinbarung zwischen Deutschland und Österreich über die koordinierten Planungen zum Ausbau der grenzüberschreitenden Schienenverbindung, haben 2012 die Planungen für den Brenner-Nordzulauf begonnen. Seit 2015 finden die Bürgerdialogforen im Inntal, seit 2017 im Raum Rosenheim statt. 2021 fiel die Entscheidung für die violette Variante. „Im Juni 2023 hat die Bahn das erste Mal mit uns persönlichen Kontakt aufgenommen, wahrlich spät!“, kritisiert Kendlinger.

Die Landwirte entlang des Brenner-Nordzulaufs sind machtlos. „Unser Eigentum wird uns einfach weggenommen, denn entweder wir verkaufen oder wir werden enteignet“, macht Kendlinger klar. Zwar zahle die Bahn eine Entschädigung. „Doch dafür wird ein Richtwert angesetzt, der nicht den tatsächlichen Bodenwerten in der Region entspricht“, kritisiert der Biolandwirt. „Für das Geld könnte ich nicht einmal die Hälfte der Flächen neu erwerben, die ich verliere. Ich bin aber auf meine Flächen angewiesen, um ausreichend Futter für meine Tiere zu haben.“ Hinzu komme, dass es hofnah gar keine Flächen mehr gibt:  „Das heißt, ich habe keine Möglichkeit mehr, meine Tiere auf die Weide auszutreiben. Dazu bin ich als Biolandwirt aber verpflichtet. Für mich ist das totaler Betrug.“

Mit dem Brenner-Nordzulauf verliert die Familie Kendlinger ihr wertvolles Weideland: „Unser Eigentum wird uns einfach weggenommen, denn entweder wir verkaufen oder wir werden enteignet“, macht Jungbauer Sebastian Kendlinger (links) klar.

Kendlinger ist enttäuscht von den handsamen Regionalpolitikern, die sich seiner Meinung nach nicht ent- und geschlossen genug für die Menschen einsetzen und deren Forderungen nicht ausreichend Gehör verschaffen: Schutz von Klima, Landschaft und Heimat, Ausbau der Bestandsstrecke und Nachweis des tatsächlichen Bedarfs einer Hochgeschwindigkeits-Neubaustrecke.

Die Kendlingers geben nicht auf

Sebastian Kendlinger und seine Familie werden nicht aufgeben. „Das hier ist unsere Heimat“, sagt Mutter Anna. Drei Generationen leben auf dem Hof: die Eltern Sebastian und Anna, Jungbauer Wast mit seiner Frau Rebecca und Tochter Rosalie (1). Um in Stetten bleiben zu können, haben sie nach Alternativen gesucht, neue Pläne geschmiedet und ihrem Gesamtkonzept weitere Puzzleteile hinzugefügt.

Suche nach alternativen Lebensgrundlagen

Rebecca (31) ist als Carelife-Kompetenzpartnerin in der Gesundheitsbranche tätig. Sie ist seit frühester Kindheit aber auch auf Pferde fixiert und hat sich jahrelang in diesem Bereich spezialisiert. Als mobile Reitlehrerin fing sie an, sattelte Ausbildungen zur Pferdeosteopathin, Bioresonanztherapeutin und Veterinär-Hydroxypathin auf. Seit acht Jahren übt sie ihr Kleingewerbe mobil aus, widmet sich kranken, infektanfälligen Tieren und geht ihren Symptomen auf den Grund. „Ich suche nach der Ursache für die Beschwerden, um sie zu beheben, damit die Pferde dauerhaft davon profitieren“, beschreibt sie ihren ganzheitlichen Ansatz.

Neue Pläne für die Zukunft: Familie Kendlinger baut mit einheimischen Baufirmen in Stetten einen Biopensionspferdestall für atemwegserkrankte Pferde. Im Juni 2024 soll er eröffnet werden.

In Stetten entsteht ein Biopensionspferdestall

„Jetzt errichten wir in Stetten einen Biopensionspferdestall für atemwegserkrankte Pferde mit zwölf Plätzen“, informiert die junge Unternehmerin. Im August 2023 hat der Bau begonnen. Die Bodenplatte für das in der Region einzigartige Projekt ist schon gegossen. „Ich bin zuversichtlich, dass wir im Sommer 2024 starten können“, blickt sie voraus. Dann können Pferdehalter mit ihren kranken Tieren nach Stetten kommen. Hier werden die Tiere ganzheitlich betreut – von Pferdetherapeutin Rebecca und einem mobilen, multiprofessionellen Team, zu dem unter anderem Tierärzte, Tierzahnärzte, Hufschmiede oder Hufpfleger gehören.

In das Projekt investieren die Kendlingers noch einmal etwa 700.000 Euro. Das Grundstück für den Biopensionspferdestall für atemwegserkrankte Pferde und die dazugehörigen Weiden gehören ihnen. Dass ihnen auch diese Flächen für den Bau des Brenner-Nordzulaufs und seine Baustelleneinrichtungen genommen werden könnten, ist nicht ausgeschlossen. „Doch wir dürfen der Angst vor dem Brenner-Nordzulauf keinen Raum in unseren Gedanken lassen“, macht sich Rebecca stark, denn: „Wir wollen in unserer Heimat bleiben.“

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