Experte schlägt Alarm
Sitzen als „tödliche Aktivität“? Aiblinger Mediziner fordert Wende in Schulen, Büros – und auf dem Sofa
Manche nennen es eine tödliche Aktivität. Fast alle machen es. In der Schule, im Büro, im Auto, auf dem Sofa. Zu lange, zu viel, zu oft: Sitzen. Der Bad Aiblinger Mediziner Dr. Bernd Reinhardt warnt vor schwerwiegenden Gesundheitsrisiken. Er kämpft für mehr Bewegung im Alltag. Und sei es nur ein bisschen.
Bad Aibling – 10.000 Schritte am Tag gehen, in der Mittagspause mal eben Hanteln stemmen oder nach der Arbeit gleich ins Fitnessstudio? Allein beim Lesen dieser gebetsmühlenartig verbreiteten Gesundheitstipps steigen viele Menschen schon gleich wieder aus. „Keine Zeit“, „fehlende Möglichkeiten“, „zu viel Aufwand“ sind nur einige der Argumente, weshalb man gar nicht erst startet. Dabei muss es gar nicht gleich das fixe große Programm sein, betont Dr. Bernd Reinhardt, der bereits vor über 40 Jahren sein erste Buch „Die stündliche Bewegungspause – Dauer- und falsches Sitzen macht krank!“ veröffentlichte.
Der Bad Aiblinger Orthopäde im Ruhestand hat sich seit Jahrzehnten dem Kampf gegen sogenannte Sitzkrankheiten verschrieben und warnt: „Die Entwicklung vom Jäger und Sammler zum Stubenhocker schreitet immer weiter voran. Laut Weltgesundheitsorganisation ist körperliche Inaktivität weltweit der viertgrößte Risikofaktor für Sterblichkeit und schwerwiegende Erkrankungen wie Krebs, Alzheimer, Osteoporose oder zu Sturzgefahr durch Wirksamkeitsverlust des Gleichgewichtsinns.“ Schon 1983 gründete der Mediziner die erste ambulante Rückenschule Deutschlands in Bad Aibling sowie 1992 den „Bundesverband der deutschen Rückenschulen“. Auch mit 83 Jahren wird er nicht müde, über die Gefahren des „Vielsitzens“ aufzuklären. Aktuell ist er mit seinem Vortrag „Sitzkrankheiten – krank durch zu viel Sitzen“ unterwegs.
Herr Dr. Reinhardt, was möchten Sie mit Ihren Bemühungen erreichen?
Dr. Bernd Reinhardt: Eins meiner Ziele heißt heute „die bewegte Schule“. Dazu gehört allem voran, dass der Sitzzwang für Kinder und Jugendliche aufgelöst wird. Wie sieht denn deren Schulalltag aus? 45 Minuten sitzen, fünf Minuten Pause in der Raucherecke oder beim Quatschen, aber bewegt wird da gar nichts. Dabei ist das gerade in der Wachstumsphase, in der die jungen Menschen zum Sitzen gezwungen sind, noch schlimmer. Die Organe sollen ja noch wachsen. Aber das geht nicht, wenn ich dahocke und mir die Formeln merken oder Vokabeln lernen soll. Schulpflicht bedeutet auch Staatspflicht, die Gesundheit der anvertrauten Kinder und Jugendlichen zu erhalten beziehungsweise die körperliche und geistige Verfassung auf die im Arbeitsleben geforderten Verhältnisse vorzubereiten!
Vortrag über Sitzkrankheiten
Einen Vortrag zum Thema „Sitzkrankheiten – krank durch zu viel Sitzen?“ hält Dr. Bernd Reinhardt am Samstag, 24. Mai, um 10 Uhr im großen Rathaussaal in Bad Aibling. In seinem Buch „Vom Jäger & Sammler zum Stubenhocker – Fort-Schritt oder Rück-Entwicklung?“ beleuchtet der Orthopäde im Ruhestand die gesundheitlichen Risiken des Bewegungsmangels und zeigt Vorbeugungsmaßnahmen auf. Der Eintritt zur Veranstaltung ist frei.
Aber was können Schulen hier tun?
Dr. Reinhardt: Ganz einfach für Bewegung im Schulalltag sorgen. Und sei es nur durch Aufstehen zwischendrin. Früher sind die Schüler zum Beispiel aufgestanden, wenn ein Lehrer in den Raum kam oder wenn sie eine Frage stellten oder beantworteten. Noch besser mitnehmen kann ich sie natürlich durch Emotionen, durch Spaß, durch etwas Spielerisches. Es muss doch nicht die schroffe Klingel sein, die zum Unterrichtswechsel läutet. Mit Discomusik etwa entsteht da eine ganz andere Dynamik und ich bin mir sicher, dass sich die meisten da sofort bewegen und entspannen. Auch in der Pause.
Haben Sie noch mehr Beispiele?
Dr. Reinhardt: Ja. Was spricht denn dagegen, vor oder während einer Stunde die „La-Ola-Welle“ zu machen? Oder Angebote zu schaffen, wie sie die jungen Leute auf der Internet-Plattform TikTok konsumieren: Da macht einer was vor und alle machen es nach, wie zum Beispiel bei dem gerade so populären „Renegade Dance“. Man bewegt sich ohne großen Aufwand emotional und lebt dabei sein Bewegungsbedürfnis aus.
Sie sagen „ohne großen Aufwand“. Also nicht unbedingt jeden Tag 10.000 Schritte gehen, sich in der Treppensteiger-Challenge messen oder morgens eine Stunde joggen?
Dr. Reinhardt: Das ist in vielen Fällen natürlich auch nicht verkehrt. Aber auch schon kleine Bewegungseinheiten bringen viel für die Gesundheit. Denn auch für unseren Körper gilt: Alles, was nicht genutzt wird, verkümmert. Neueste Studien sagen zum Beispiel, dass es gar nicht die 10.000 Schritte am Tag sein müssen. 4000 Schritte wären demzufolge schon ausreichend. Was ich zum Beispiel mache, wenn ich alleine bin: Ich schalte Musik an und mache dazu meine eigenen Bewegungen oder Gymnastikübungen. Nicht jeden Tag, aber oft genug. Das hilft mir bei meinen Kreislaufproblemen.
Und wie kann man Bewegung auf spielerische Weise in den Unterricht einbauen?
Dr. Reinhardt: Zum Unterrichtsbeginn fünf Minuten pro Stunde für Bewegung und Atmung einplanen. Das bedeutet keinen Zeitverlust, sondern Gewinn an Aufnahmevermögen. Jeder Herzschlag mehr befördert mehr Glucose und Sauerstoff zum Gehirn und erhöht damit Aufmerksamkeit und Denkvermögen. Als Schule kann ich viel im Freien machen. Da sind uns zum Beispiel die Finnen weit voraus. Die lernen auch mal Vokabeln im Wald, bewegen sich dabei. Es geht aber auch, wenn jeder einen Kopfhörer – ähnlich wie ein Audio-Guide auf Reisen oder in Museen – aufhat und unterm Herumgehen das hört, was der Lehrer eingesprochen hat. Auch jeder Treppengang erhöht den Durchfluss des Gehirns. Das macht unwahrscheinlich viel aus. Wenn ich sehe, was da an Reserven vergeudet wird – das ist unglaublich. Wichtig ist es, Reize zu setzen. Wir brauchen Bewegungs-, Atem-, Denkreize. Was mir aber wichtig ist, zu betonen, dass Bewegung im Schulalltag keinesfalls den Schulsport ersetzt!
An den Grundschulen rührt sich was
Tatsächlich sollen Bayerns Grundschüler ab Herbst 2025 weniger sitzen: Der Ministerrat hat ganz aktuell beschlossen, dass sich die Schüler jeden Tag mindestens 30 Minuten bewegen müssen. In Frankreich gibt es bereits seit 2022 die Initiative „Trente Minutes“ (30 Minuten), die das gleiche Ziel beinhaltet und Teil der „Gesundheitsfördernden Schule“ und der „Nationalen Strategie für Sport und Gesundheit (SNSS)“ ist.
Neben der Schule liegt Ihnen auch das Thema „Bewegtes Büro“ am Herzen. Was braucht es dazu aus Ihrer Sicht?
Dr. Reinhardt: Prinzipiell gilt: Je häufiger ich vom Stuhl aufstehe, umso besser ist es. Einfach mal die Wadenmuskeln bewegen. Denn ich brauche die Bewegung da unten, um oben die Herzkammern zu bestücken, um den Blutkreislauf, die Lymphe, den Sauerstoffaustausch in Gang zu bringen. Wenn ich lange sitze, habe ich zum Schluss dicke Beine und wiege zwei Kilo mehr, das ist messbar.
Empfehlen Sie zum Beispiel den Stehschreibtisch?
Dr. Reinhardt: Wichtig und entscheidend ist der Wechsel zwischen den Positionen, und zwar je häufiger, desto besser. Sitzen ist Ruhehaltung, Stehen nicht. Mir fällt da ein Beispiel ein: Ungerechterweise hat man den Straßenbahnschaffnern irgendwann einmal Sitze gemacht. Früher waren die Schienen so schlecht, dass sie ständig mit dem Körper ausgleichen mussten, was sehr gut war. Oder: In Großbritannien hat man herausgefunden, dass Leute, die bei den Doppeldeckerbussen regelmäßig diese Treppen nach oben und wieder hinuntersteigen, weniger herzinfarktgefährdet sind als die, die immer nur unten mitfahren.
Im Büro ist das ja nicht so simpel. Was raten Sie da?
Dr. Reinhardt: Treppen nutzen, wenn es Treppen gibt. Unterm Telefonieren auf und ab gehen. Die Räumlichkeiten so gestalten, dass die Leute selber nach Bewegung suchen. Laut Statistik sagen viele „Ich bewege mich zu wenig“. Die haben‘s wenigstens kapiert. Aber selber gestalten können sie nicht viel. Das muss dann von oben kommen. Die Chefs müssen verstehen, dass dies große Vorteile nicht nur für die Mitarbeitergesundheit, sondern auch für das Unternehmen bringt. Dass die Produktion steigerungsfähig ist, wenn die Leute ihre körperlichen Voraussetzungen verbessern. Bewegung wirkt sich positiv auf die Funktion von Hirn, Herz, Atmung, Kreislauf und Lymphfluss aus. Es besteht ein Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG §1), welches dazu dienen soll, Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten zu sichern und zu verbessern. Dies gilt für alle Tätigkeitsbereiche.
Und wenn wir nun noch zu den typischen „Couch Potatoes“ abends vorm Fernseher kommen?
Dr. Reinhardt: Nicht ernst gemeint könnte ich sagen, „Schauen Sie private Fernsehsender an, die unterbrechen so oft, dass sie gern aufstehen und mal weggehen.“ Wenn Sie dann nicht zum Kühlschrank gehen, dann hat das schon mal einen Zweck erfüllt. Leider findet man keine Krankenkasse, die in den Werbepausen die ein oder andere Übung zeigt und zum Mitmachen animiert.
Was kann ich auf dem Sofa tun?
Dr. Reinhardt: Fußgymnastik. Füße und Zehen bewegen, krallen, strecken, hochlagern, strampeln, in der Luft radfahren. Füße sind unsere wichtigsten Organe, die aber am meisten vernachlässigt werden. Sie verkümmern, wie alle Organe, die nicht gebraucht werden. Das ist einfach so. Das weiß man, wenn man nur mal zwei Tage im Bett liegt. Da braucht man erst mal wieder zwei Tage, um richtig in Gang zu kommen, man muss sich die Schwerkraft wieder erarbeiten.
Also Hauptsache kein Sitzen, Stehen, Liegen in gleichbleibender Position?
Dr. Reinhardt: Ja. Und das kommt nicht nur der körperlichen Gesundheit zugute. Ich bin 84, habe Probleme mit dem Kreislauf. Ich bewege mich, das macht frei und bewegt auch den Geist. Zum Beispiel hatte ich früher Lampenfieber bei Vorträgen. Die hielt ich anfangs vor zwei, dann vor fünf, dann vor 50 Zuhörern und zum Schluss vor 2000 Krankengymnasten. Da habe ich angefangen, zu Beginn fünf Minuten Musik vorzuspielen. Sie können sich nicht vorstellen, wie alle mitgemacht haben und wie entspannt und aufnahmebereit sie danach waren. Alle haben sich gefreut, sich bewegen zu können und meine Angst war gelöst. Das war zwar ein anderer Zuhörerkreis, aber das können Sie beispielsweise in der Schulklasse genauso machen. Fünf Minuten Musik lösen Anspannung, nach kurzer Bewegung sind Sie psychologisch gesehen ein ganz anderer Mensch. Das Gleiche gilt für Übungen der progressiven Muskelentspannung. Das habe ich früher abends nach der Praxis selber gemacht. Fantastisch, sie sind wie neugeboren danach. Und deshalb werde ich nicht müde, nach Schulen zu suchen, die den Mut haben, diesen Weg zu gehen und das Potential der Bewegung zu nutzen.
