Wenn der Therapieplatz auf sich warten lässt
Apps für die geistige Gesundheit - So will die Schön Klinik die Therapie digital machen
Corona, die Energiekrise und Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten. Krisen sind derzeit allgegenwärtig. Immer mehr Menschen sind dadurch auch psychisch belastet. Dabei ist der Übergang von der psychischen Belastung zur psychischen Erkrankung oft fließend. So sollen Apps dabei helfen.
Prien – Immer mehr Menschen leiden unter psychischen Belastungen. Die Krisen der vergangenen Jahre haben vielen zu schaffen gemacht. Während einige ihren Alltag dennoch meistern können, sind andere auf Hilfe angewiesen. Aber wer einen Platz für eine Psychotherapie sucht, muss sich auf lange Wartezeiten einstellen. Hier können Apps helfen, die die betroffenen Menschen schon vor der eigentlichen Therapie unterstützen können. Die Schön Klinik Roseneck in Prien hat bereits Erfahrungen mit solchen Apps gemacht. Wir haben mit dem ärztlichen Direktor der Schön Klinik Roseneck in Prien, Prof. Dr. Ulrich Voderholzer über das Potenzial solcher Apps in der Therapie gesprochen.
Herr Prof. Dr. Voderholzer, die zahlreichen Krisen in den vergangenen Jahren haben viele Menschen psychisch stark belastet. Viele Betroffene zögern bei der Suche nach Hilfe. Worauf führen Sie das zurück?
Prof. Dr. Ulrich Voderholzer: Die Corona-Pandemie mit ihren Kontaktbeschränkungen und deren Folgen war für viele Menschen, und für Menschen mit psychischen Erkrankungen ganz besonders, eine starke Belastung. Aber auch nach Ende der Pandemie sind wir mit globalen Krisen wie Kriegen, Klimawandel und Rezession konfrontiert, was zu Unsicherheit und psychischer Belastung führen kann. Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene scheinen am stärksten betroffen. Hier erleben wir eine Zunahme von Depressionen und Ängsten.
Warum nehmen Menschen nicht so schnell Hilfe in Anspruch?
Voderholzer: Wenn man an einer psychischen Erkrankung leidet, gibt es immer noch bei vielen eine große Hemmschwelle, Hilfe in Anspruch zu nehmen und viele haben auch keine Zeit. Auf der anderen Seite ist es schwierig, dann auch die Hilfe zu erhalten, die man möchte. Wer einen Platz für Psychotherapie sucht, muss meist mit langen Wartezeiten rechnen, Es gibt Regionen in Bayern, wo man bis zu einem Jahr warten muss, bis man überhaupt einen Termin bekommt. Aber es gibt Beratungsstellen und viele wenden sich auch an ihren Hausarzt.
Ist der Bedarf denn so hoch?
Voderholzer: Nur ca. 40 Prozent der Menschen, die die Kriterien für eine psychische Störung erfüllen, suchen überhaupt Hilfe auf. Manche Menschen zweifeln, ob sie krank genug sind, damit sie überhaupt ein Recht auf eine Therapie haben. Viele haben vielleicht auch Ängste vor einer Therapie, oder befürchten, stigmatisiert zu werden. Und viele empfinden es als Schwäche, Hilfe zu benötigen. Das sage ich immer: Hilfe zu akzeptieren, ist keine Schwäche, sondern eine Stärke. Viele Menschen nehmen leider lebenslang keine Hilfe in Anspruch.
Wie kommen denn da diese neuen Apps ins Spiel?
Voderholzer: Es gibt einen hohen Bedarf an Psychotherapie. Es ist nach wie vor ein großes Manko in Deutschland, dass für diejenigen, die eine Psychotherapie benötigen und wünschen, diese in aller Regel nicht rasch verfügbar ist. Und an der Stelle sind Apps für psychische Erkrankungen eine Möglichkeit. Diese Apps werden auf Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen der Psychotherapie entwickelt und enthalten Empfehlungen und Interventionen, die auch in einer Psychotherapie vermittelt werden, wenngleich sie den Psychotherapeuten natürlich nicht ersetzen können. Aber es sind sehr gut ausgearbeitete, und auch wissenschaftlich geprüfte Programme.
Aber diese Apps sind nur unterstützend zur Therapie gedacht oder auch zur Sofortbehandlung? Nur mit App?
Voderholzer: Sie sind prinzipiell auch für die Sofortbehandlung für viele Betroffene gedacht. Es erfordert allerdings eine gewisse Selbstdisziplin, Inhalte der App dann täglich oder in gewisser Regelmäßigkeit zu bearbeiten. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass auch die alleinige Arbeit mit der App zu einer Verbesserung des psychischen Gesundheit führen kann. Die Wirksamkeit ist aber besser, wenn der Arzt oder Therapeut, der sie verordnet hat, in Kontakt mit dem Betroffenen bleibt und immer wieder nachfragt, ob der Betroffene die Empfehlungen umgesetzt bzw. mit den einzelnen Modulen gearbeitet hat. Ohne Begleitung bleiben leider viele Betroffene nicht dabei.
Aber diese Apps können wirklich helfen?
Voderholzer: Die App richtet sich an Erwachsene mit einer leichten oder mittelgradigen Depression, unabhängig davon, ob sie schon Therapieerfahrung haben, oder ob sie erstmals erkrankt sind und noch nie in Behandlung waren. Vor allem diese letzte Gruppe könnte von der App besonders profitieren, weil sie auch die inneren Hürden, die Menschen von der Hilfesuche abhalten, anspricht. Nehmen wir mal ein Beispiel. In einer depressiven Phase hat sich jemand zurückgezogen, Kontakte abgebrochen, unternimmt nichts mehr, grübelt viel, kann sich schlecht entspannen und vernachlässigt seinen Schlafrhythmus. In einer App kann er hier konkrete Anweisungen und Unterstützung bekommen, zum Beispiel Entspannungsübungen durchzuführen. Er wird mit vielen unterschiedlichen Vorschlägen ermutigt, wieder mit Aktivitäten zu beginnen, er wird auch über typische depressive Denkmuster aufgeklärt und erhält hilfreiche Tipps, wie er damit besser umgehen kann.
Interagiert die App auch mit dem Patienten?
Voderholzer: Diese Apps sind auch interaktiv und können Feedback geben, zum Beispiel wie der Schweregrad einzuschätzen ist. Ein großer Vorteil der App ist, dass sie nicht mit Wartezeiten verbunden ist und dass man sie dann benutzen kann, wenn man Zeit hat. Auch zehn Minuten am Tag können schon etwas bewirken. Für Menschen mit einem sehr vollen Terminplan kann das eine gute Lösung sein. Wenn eine Person an einer Depression erkrankt, ist Psychotherapie meist erst nach Monaten verfügbar, Psychopharmaka wie zum Beispiel Antidepressiva, dagegen rasch. Viele Menschen wollen aber nicht gleich ein Medikament nehmen, sondern präferieren Psychotherapie. Natürlich gibt es Krankheitsbilder, bei denen Psychopharmaka auch primär wichtig und notwendig sind, aber doch auch sehr viele, die sehr gut von einer Psychotherapie als erste Therapieform profitieren können. Leider ist die Psychotherapie aber in der Regel schlecht verfügbar und oft mit langen Wartezeiten verbunden. Apps sind dagegen, wenn sie verschrieben werden, sofort verfügbar.
Die wird verschrieben? Ich nehme an, die kostet auch was. Trägt das dann die Krankenkasse?
Voderholzer: Ja, Apps werden von den Krankenkassen auch getragen, wenn sie zugelassen sind. Die müssen einen Zulassungsprozess durchlaufen und sind dann sogenannte digitale Gesundheitsanwendungen (sog. „DiGas“).
Und da gibt es schon einige, die zugelassen sind?
Voderholzer: Einige gibt es schon, genau. Es gibt im Bereich der psychischen Erkrankungen schon mehr als zehn, die dafür zugelassen sind.
Wie funktionieren diese Apps?
Voderholzer: Die App hat mehrere Funktionen. Zum einen kann sie wie ein Tagebuch genutzt werden, und Nutzerinnen können mehrmals täglich protokollieren, wie es ihnen geht. Sich das regelmäßig bewusst zu fragen - das geht im Alltag oft unter, es ist aber wichtig, um ein Gespür dafür zu bekommen, wie es um die eigene Psychische Gesundheit bestellt ist. Die App fragt zusätzlich regelmäßig nach Symptomen von Depression und anderen häufigen psychischen Erkrankungen, aber auch nach Lebensumständen und aktuellen Schwierigkeiten. Aufbauend auf den Antworten, die der Nutzer oder die Nutzerin auf die Fragen gibt, gibt die App dann weitere Informationen und auch konkrete Handlungsempfehlungen. In der App findet sich zusätzlich eine große Kursbibliothek, mit der Nutzer und Nutzerinnen zur Selbsthilfe angeleitet werden.
Also, stelle ich mir das so vor, ich nutze eine App, melde mich an und trage dann meine Symptome ein.
Voderholzer: Symptome, Befindlichkeit, Schweregrad. Und die App gibt dann, wie es ein Psychotherapeut auch macht, Empfehlungen, Hinweise und Ermutigungen, aktiv zu werden und Probleme anzugehen. Und wer mit den Modulen arbeitet und die Hausaufgaben im Alltag umsetzt, hat auch nachgewiesenermaßen einen Nutzen davon. Auch in einer üblichen Psychotherapie ist es ja wichtig, die Termine wahrzunehmen und das Besprochene zwischen den Sitzungen im Alltag umzusetzen.
Eine App wird wahrscheinlich eher junge Menschen ansprechen, die sowieso tagtäglich mit dem Smartphone zu tun haben, oder? Was ist mit älteren Patienten?
Voderholzer: Die Forschung hat gezeigt, dass Patienten im mittleren und höheren Alter sogar etwas häufiger von den Apps profitieren als die Jüngeren. Junge Menschen sind zwar technikaffin, aber ältere Menschen haben manchmal etwas mehr Bereitschaft, eine Therapie konsequent durchzuführen. In der Forschung fand man eine Tendenz zur etwas besserer Wirksamkeit bei Menschen mit Depressionen im mittleren, auch höheren Lebensalter als bei jüngeren.
Jetzt nochmal zu den Apps an sich. Sie hatten Beispiele von Apps für Schlafstörungen, Ängste oder Depressionen angesprochen. Was gibt es denn sonst noch?
Voderholzer: Es gibt insgesamt mittlerweile etwa 40 bis 50 zugelassene Apps, die als digitale Gesundheitsanwendungen in Deutschland zugelassen sind. Sie können zum Beispiel bei Blutzucker, Diabetes, Übergewicht, Migräne, und anderen möglichen Erkrankungen helfen. Für diese Apps gibt es ein sogenanntes DIGA-Verzeichnis, das über das BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) läuft. Das heißt, das gleiche Institut, das für die Arzneimittel zuständig ist, ist auch für die DiGAs zuständig. Und diese DIGAs müssen auch wissenschaftlich überprüft sein, bevor sie zugelassen werden.
Wie sind denn Ihre bisherigen Erfahrungen mit Apps?
Voderholzer: Diese Apps sind für einen Teil der Menschen mit psychischen Erkrankungen sinnvoll und wirksam. Das Problem ist wirklich, dass viele es nicht konsequent nutzen. Das heißt, sie fangen damit an und dann hören sie wieder damit auf. Es hängt davon ab, was für eine Persönlichkeit man ist, wie diszipliniert man dann auch damit arbeitet. Wer sie regelmäßig nutzt und seien es nur zehn min am Tag, kann davon profitieren. Sehr positiv ist, dass die Apps bzw. die darin enthaltenen Therapieansätze, auf soliden wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren, was in einer Therapie wirksam ist. Das kann im Einzelfall auch mal besser sein als eine Gesprächstherapie, wenn der Betroffene davon nichts im Alltag umsetzen kann. Natürlich ist in der Regel eine gut durchgeführte Psychotherapie mit einer persönlichen Beziehung und einer intensiven Arbeit an den Problemen wirksamer.
Würden Sie solche Apps wirklich empfehlen?
Voderholzer: Ich würde sie auf jeden Fall empfehlen. Ich würde aber auch empfehlen, dass derjenige, der sie verschreibt, sich wenigstens alle 14 Tage oder alle vier Wochen mal erkundigt und nachfragt. Das erhöht schon die Nutzungsrate.
