Klinik Schönsicht in Bischofswiesen
„Alles nur eingebildet“: Wie Post Covid bei Kindern und Jugendlichen verharmlost und ignoriert wird
„Alles nur eingebildet“ oder „Ich hatte auch Corona und hab mich erholt“: Anke Joas kennt die Sprüche, die sich Kinder und Jugendliche als Post-Covid-Patienten anhören müssen. Sie wünscht sich mehr Unterstützung und weniger Stigmatisierung. Aus ihrem Alltag in der Klinik Schönsicht in Bischofswiesen weiß die Ärztin, wie schwer es Betroffene haben und wie anstrengend der Weg zu einem kleinen Stück Normalität ist. Denn die Kinder und Jugendlichen leiden, wie es sich Außenstehende nur schwer vorstellen können.
Bischofswiesen - „Wir mussten erstmal selber lernen und sind dabei auch auf die Nase gefallen“, wie es Dr. Joas ausdrückt, als 2021 die ersten Post-Covid-Patienten zur Rehaklinik am Oberkälberstein kamen. Ausprobieren, aus Fehlern lernen und sich über erste wissenschaftliche Erkenntnisse informieren: Stück für Stück sammelten die Mitarbeiter Erfahrungen im Umgang mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen, um den Therapiealltag anzupassen. „Wir dachten zum Beispiel anfangs, dass sie in der Sportgruppe der Adipositas-Patienten mithalten können. Das war auch für uns ein Lernprozess“, schildert Dr. Joas. Schnell stellte sich heraus: Das funktioniert nicht, die Klinik muss einen anderen Ansatz wählen.
Bislang waren über 60 Post-Covid-Patienten am Oberkälberstein. „Bei Kindern und Jugendlichen ist es fast noch schlimmer als bei Erwachsenen, weil man weniger weiß“, meint die Ärztin. Viele hätten die Krankheit zu Hause überstanden, wo wenig oder gar nicht getestet wurde. „Oft fielen sie erst auf, wenn sie in den Schulen nicht mehr ihre gewohnte Leistung zeigten und ständig müde oder krank waren.“ An den gewohnten (Leistungs)Sport war meist zunehmend weniger zu denken, bei Einweisung sind selbst kurze Spaziergänge oder ein einfaches Treppensteigen bei manchen Patienten eine Herausforderung.
Mangelhafte Diagnosen
Das große Problem: Viele Symptome sind unspezifisch und lassen sich nur schwer erklären. Weil sich nach wie vor noch zu wenige Ärzte und Kliniken damit auskennen und die Erkrankung zu depressiven Störungen und Veränderungen führen kann, ist häufig von einem „psychischen Problem“ die Rede. Dr. Joas weiß: „Viele können oder wollen Post Covid nicht erkennen und diagnostizieren.“ Betroffen müssen sich dann Sprüche anhören wie „Die jammern nur und müssen sich ein bisschen mehr anstrengen, dann geht das schon“ oder „Ich hatte auch Corona und habe mich nicht so angestellt“.
Weil selbst Freunde nicht verstehen, was mit den Betroffenen los ist, ziehen sich die Kinder und Jugendlichen aus ihrem Umfeld immer mehr zurück. Vor allem in der Teenager-Zeit eine besondere Herausforderung. „Normalerweise ist man viel unter Gleichaltrigen, befindet sich auf Partnersuche, will ausgehen und feiern. Doch die Post-Covid-Patienten liegen nach einem solchen Abend dann tagelang im Bett, weil sie eine unverhältnismäßig starke Erschöpfungsreaktion zeigen“, erklärt die Expertin. „Bei Erwachsenen weiß man, dass mehrere Organe betroffen sein können und es sich um eine chronische Entzündungsreaktion handelt, die nicht zum Stillstand kommt“, so Joas. Kurz gesagt: Der Körper kämpft und kämpft dagegen an, erschöpft sich dadurch aber immer weiter.
15 bis 16 Stunden am Stück schlafen
Manche schlafen 15 bis 16 Stunden am Stück, weil sie keine Kraft und Energie mehr haben. Sie können nicht zur Schule, sich nicht mehr mit Freunden treffen oder Hobbys nachgehen. Viele setzen sich selbst unter Druck und wollen die Erwartungen trotzdem irgendwie erfüllen. Das führt dazu, dass die Beschwerden noch schlimmer werden. Das Selbstwertgefühl leidet, Verzweiflung und Hilflosigkeit kommen dazu.
Man könnte ihnen damit das Stigma nehmen, dass sie alles nur vortäuschen würden.
Die Ärztin weiß von Studien, die Veränderungen im Gehirn zeigen. „Entweder bleibt das Virus bestehen und reaktiviert andere Viruserkrankungen oder der Körper fängt an, gegen sich selbst anzukämpfen.“ Bei Erwachsenen seien sowohl auf der zellulären als auch biochemischen Ebene im Körper Veränderungen nachgewiesen worden. „Wieso sollte es bei Kindern und Jugendlichen grundlegend anders sein? Man könnte ihnen damit das Stigma nehmen, dass sie alles nur vortäuschen würden“, findet Joas. Das würde den Betroffenen helfen, wieder Boden unter die Füße zu bekommen.
Der Weg zur Besserung
In der Klinik versuchen die Ärztin und die Mitarbeiter, ihnen zum Beispiel Techniken zur Stressbewältigung beizubringen. „Man geht davon aus, dass im Nervensystem der Bereich, der für das Unbewusste wie Essen, Schlafen und Trinken sowie für Stressempfinden verantwortlich ist, etwas durcheinander gekommen ist. Vergleichbar ist das mit den Symptomen eines Burnout: Neue Belastungen werden als extrem belastend empfunden und der Körper reagiert dann darauf.“
Überhaupt lautet die wichtigste Taktik: Schritt für Schritt und sich über jeden noch so kleinen Fortschritt freuen. „Sie dürfen nicht vergleichen, wie es vorher war“, betont die Ärztin. Mit dem Hier und Jetzt zurechtkommen, mit dem Ist-Zustand anfreunden und wissen, dass es neben Plan A auch noch die Pläne B, C und D gibt: Der Weg dorthin ist schwer und oft mit Rückschlägen gepflastert.
Gefährliche Rückfälle
Die größte Herausforderung liegt im Bereich Bewegung. Ganz dosiert versuchen die Mitarbeiter, kleine Erfolgserlebnisse zu erzielen und den Kreislauf in Gang zu bringen. „Manche haben schon Blutdruck und Herzrasen, wenn sie nur aus dem Bett aufstehen. Die kommen im Rollstuhl zu uns“, verdeutlicht Joas. Während des Aufenthalts am Oberkälberstein gilt es, sie vorsichtig an die körperlichen Grenzen heranzutasten und diese von Tag zu Tag auszubauen.
Die kommen im Rollstuhl zu uns.
Die große Gefahr: Wenn Betroffene erste Fortschritte bemerken, neigen sich manchmal dazu, wieder in den alten Rhythmus zu verfallen. „Da hatten wir schon Fälle, die in Nerven- und Muskelkrämpfen endeten, weil sie nicht gemerkt haben, wann sie die Handbremse anziehen mussten. Das sorgt natürlich wieder für Frust und Verzweiflung.“
Hohe Abbruchquote
Klinikleiterin Iris Edenhofer, die auch mit der künftigen Behandlung von medienabhängigen Jugendlichen sowie den Neubauten schwer beschäftigt ist, bemerkt oft bei den Neuankömmlingen, dass sie ein extremes Bedürfnis nach Ruhe haben. Weil die Betroffenen meistens in Gruppen nicht zurechtkämen, bräuchten sie eine individuelle Betreuung. „Das ist auch für uns als Klinik personell schwierig zu händeln“, erklärt sie.
Die Abbruchquote sei hoch, auch weil manchmal die Eltern das Gefühl bekämen, dass die Fortschritte zu gering ausfallen und der Aufenthalt nichts bringe. „Die Patienten waren oft monatelang allein Zuhause. Hier kommen viele neue Eindrücke dazu, die Rund-um-die-Uhr-Betreuung fällt weg, das Handy müssen sie abgeben“, beschreibt Edenhofer, weshalb sich manche vor Ort schwertun.
Mehr Aufklärung gefordert
Die Leiterin sieht das Problem vor allem darin, dass die Erkrankung durch Haus- und Kinderärzte nicht erkannt wird. Sie fordert mehr Aufklärungsarbeit über Post Covid und will deswegen auch im März ein Symposium veranstalten, um darauf aufmerksam zu machen. „Wir hatten heuer schon mehr als 30 Patienten. Corona ist nicht verschwunden und wird uns als Klinik weiter beschäftigen“, macht sie klar.
Ärztin Anke Joas versucht mit ihrem Team den Betroffenen beizubringen, mit der Situation umzugehen und auch die Familien sowie Freunde ins Boot zu holen. „Sei der ,Master of the Game‘: Wenn dir etwas Spaß macht, dann tu es. Es gibt keine Verbote, aber immer mit Handbremse und diese nur leicht lösen, ohne zeitliche Vorgaben“, erklärt sie den Patienten. Wenn sie diesen Weg verinnerlichten, seien schnelle - den Umständen entsprechend - Erfolge zu verzeichnen.
Eine lange Odyssee bis zur richtigen Diagnose
Trotzdem gibt es noch viel zu tun - auch mit Blick auf die Gesellschaft und den Umgang mit den Erkrankten. Während es für Erwachsene geregelte Wiedereingliederungsprogramme in den Joballtag gibt, fehlt diese Option an den meisten Schulen. Joas weiß: „Es gibt Schulleitungen, die gar kein Verständnis haben.“
Viele Kinder und Jugendliche würden sich damit abfinden und manchmal gar nicht mehr zur Schule gehen. Statt Studium oder Lehre heißt es dann Hauptschulabschluss oder gar kein Abschluss. Joas weiß, dass der Bedarf groß ist und die Dunkelziffer vermutlich noch viel größer. „Statistisch gesehen müssten an den Schulen circa ein Prozent von Post Covid betroffen sein. Aber die kennen sich untereinander nicht und die Scham ist sehr groß. Und die niedergelassenen Ärzte tun sich oft schwer, die Diagnose zu stellen. Hier braucht es Verbesserungen“, fordert sie.
Aus den Gesprächen in der Klinik weiß sie, dass viele Betroffene und deren Familien eine regelrechte Odyssee über mehrere Monate und Jahre erleben, ehe sie die richtige Diagnose erhalten und an einem Ort wie der Rehaklinik Schönsicht landen. Selbst unter Experten besteht durchaus Uneinigkeit, ob es sich bei Post Covid überhaupt um ein Thema handelt. Aus der Sicht von Dr. Joas ist diese Frage eindeutig zu beantworten, denn sie erlebt jeden Tag, in welchem Zustand sich die Betroffenen befinden. Doch sie weiß auch: „Mit den richtigen Rahmenbedingungen und der passenden Unterstützung kommen viele langfristig wieder in die Nähe ihrer alten Leistungsfähigkeit.“ (ms)

