Berchtesgadener Bahnhof-Apotheke verkauft
„Muss einen Schlussstrich ziehen“: St. Georg-Apotheke in Bischofswiesen seit März geschlossen
Über 30 Jahre lang arbeitet Ulrike Fellner als Apothekerin im Berchtesgadener Talkessel. Den Großteil dieser Zeit leitet sie die Bahnhof-Apotheke in Berchtesgaden, 2022 übernimmt sie die St. Georg-Apotheke in Bischofswiesen. Doch im Mai 2024 folgt die Ernüchterung: Sie muss Insolvenz anmelden und alles verkaufen. Jetzt steht sie vor den Trümmern ihres einstigen Lebenswerkes. Im Gespräch äußert sie sich zu den Gründen und wie es weitergehen soll.
Berchtesgaden/Bischofswiesen - Einen Schlussstrich ziehen und nach vorne blicken: Leichter gesagt als getan, wenn es um das eigene Lebenswerk geht. Ulrike Fellner hat über 30 Jahre hart dafür gekämpft und gearbeitet - oft bis an ihre eigenen Grenzen und noch häufiger darüber hinaus. „Apotheke vorübergehend geschlossen“, heißt es seit wenigen Wochen auf einem Zettel, der an der Eingangstür ihres Geschäfts an der Haupstraße in Bischofswiesen hängt. Damit verliert die Gemeinde ihre einzige Apotheke - und Fellner das Leben, das sie seit Jahrzehnten nicht anders kennt.
Es ist eine einmalige Gelegenheit, die sie 1993 zum Umzug nach Berchtesgaden bringt. In Altenmarkt an der Alz pachtet sie ihre erste Apotheke, doch als sie erfährt, dass die Apotheke in der Oberschönauer Straße 109 verkauft wird, schlägt sie zu. Auch, weil ihre Eltern in Berchtesgaden eine Arztpraxis haben. Das Angebot ist zu verlockend. Für den Kauf und den Umbau nimmt sie einen Kredit auf.
Erste Rückschläge
Doch früh kommen die ersten Rückschläge: Ein Rezeptverlust in Höhe von 120.000 DM kann nie aufgeklärt werden. Es folgt ein Wassereinbruch in ihren Laden aufgrund schlechter Bausubstanz, verbunden mit enormen Umsatzverlusten und einer uneinsichtigen Vermieterin. Und dann stirbt noch ihr damaliger Lebensgefährte, der einen großen Schuldenberg hinterlässt. Sie sind nie verheiratet, aber um ihre Kinder zu schützen, übernimmt sie die Bezahlung der Schulden.
Als 2004 mit dem Bau des Kreisverkehrs vor dem Bahnhof begonnen wird, zwingt sie diese Maßnahme zum Umzug. Zu der Zeit gibt es kaum Umsatz, da der Bauzaun direkt vor der Eingangstür endet. Auch die Oberschönauer Straße ist für viele Monate gesperrt. Sie muss Kurzarbeit für die Mitarbeiter anmelden. Sie kommt im neuen Bahnhofsgebäude unter und muss dafür weitere 300.000 Euro in die Hand nehmen - die vorherigen Schulden hat sie zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht abbezahlt. „So schnell geht das nicht, aber ich musste nach vorne preschen. Es ging nicht anders“, erinnert sie sich. Während sie die Großbaustelle am Kreisverkehr versucht zu überstehen, gibt es später gab auch in den neuen Räumen wieder Pech mit baulichen Mängeln und dem zweiten Vermieter, nachdem das Bahnhofsgebäude verkauft wird.
Bahnhofsapotheke war Fellners „Baby“
Viele Jahre verbringt sie im Bahnhof und hat noch heute durchaus glückliche Erinnerungen an diese Zeit. „Die Apotheke war mein Baby“, macht sie klar. „Das war unser Zuhause. Meine vier Kinder sind dort groß geworden, haben ihre Hausaufgaben gemacht und Traubenzucker an die Kunden verteilt. An manchen Tagen haben wir dort sogar gewohnt.“ Doch obwohl es verhältnismäßig gut läuft, steht die Branche schon damals vor Schwierigkeiten.
Viele Kunden wissen nicht, dass wir die Geldeintreiber der Krankenkassen sind.
„Früher haben wir auch schon gestreikt. Das Gesundheitssystem wird immer hinten angestellt. Viele Kunden wissen nicht, dass wir die Geldeintreiber der Krankenkassen sind“, so Fellner. Das Reizwort nennt sich Arzneimittelpreisspannenverordnung: Die Apotheken müssen für jedes rezeptpflichtige Medikament einen festgelegten Abschlag an die Krankenkassen zahlen, der seit vielen Jahren nicht angeglichen wurde. „Das führt dazu, dass wir an billigeren Arzneimitteln mehr verdienen als an teuren. Wenn ein Kunde ein Medikament im Wert von 20.000 Euro benötigt, steigt nur der Umsatz und nicht der Gewinn.“ Seitdem Fellner Insolvenz vor einigen Wochen angemeldet hat, wurde ihr im laufenden Verfahren passenderweise verboten, solche teuren Rezepte anzunehmen.
Corona bringt die nächsten Probleme
Der finanzielle Niedergang verläuft bis zu diesem Zeitpunkt zunächst schleichend. Als die Pandemie beginnt, muss Fellner wieder Kurzarbeit anmelden, um ihre Mitarbeiter weiterbezahlen zu können. Sie baut im Bahnhofsgebäude in ihrem Geschäft Räume um, damit sie sich mit einer Teststation finanziell über Wasser halten kann. „Über zwei Jahre war ich auf staatliche Hilfen angewiesen. Mein Kundenstamm ist von 450 auf etwa 150 bis 200 gesunken. Das hat sich zwar wieder gebessert, aber es waren nie wieder so viele wie vor Corona“, sagt die 60-Jährige. Ein wesentlicher Grund dafür: die zunehmenden Online-Bestellungen.
Das war mein Genickbruch.
Bis 2024 entwickelt sich alles wieder in eine halbwegs normale Richtung, ehe der nächste und entscheidende Nackenschlag folgt: Ihre Finanzierungsfirma geht pleite. Nicht nur Fellner, sondern auch andere Apotheken in ganz Deutschland werden damit kalt erwischt. „Das war mein Genickbruch“, sagt sie. Denn sie hat sich 2022 dazu entschieden, die St. Georg-Apotheke in Bischofswiesen zu übernehmen und für über 200.000 Euro zu modernisieren. „Das war nicht so ausschlaggebend für die Insolvenz, wie es viele behaupten. Vielmehr waren die rechtlichen Auflagen entscheidend“, erklärt sie.
Das Apothekengesetz lässt keine Ausnahme zu
Das sogenannte Apothekengesetz schreibe vor, dass sich immer mindestens ein Apotheker in einem Geschäft aufhalten müsse. Es wäre Fellners Rettung gewesen, wenn es ausgereicht hätte, dass sie in der Berchtesgadener Apotheke in Rufbereitschaft zur Verfügung steht und in Bischofswiesen stattdessen pharmazeutisch-technischen Assistenten (PTA) das Geschäft führen. „Ich musste eine Filialleiterin (Apothekerin) einstellen, die die Kostenstruktur des Personals natürlich sehr angehoben hat“, meint sie.
Als 2023 bundesweit Apotheken gegen die schwierigen Verhältnisse protestieren, beteiligt sich auch die 60-Jährige an den Demonstrationen und Streiks. Vor allem die Pläne von Gesundheitsminister Karl Lauterbach für Zentralapotheken in den Landkreisen ärgern sie. „Das wäre unzumutbar gewesen. Weil die Politik uns nicht unterstützt hat, folgte das Apothekensterben: So viele Schließungen wie 2024 und 2025 habe ich noch nicht erlebt.“
Halbwahrheiten, politisches Versagen und Online-Bestellungen
Im Rahmen des Insolvenzverfahrens muss sie ihren Standort in Berchtesgadener am Bahnhof an einen jungen Salzburger abgeben. Sie muss ihr gesamtes Inventar verkaufen, seit Anfang März ist die St. Georg Apotheke geschlossen. „Viele haben mich darauf angesprochen und mich gefragt, wann ich wieder aufmache. Meine Mitarbeiter haben sich aufgrund der unsicheren Zukunft nach neuen Stellen umgeschaut, wofür ich Verständnis habe“, teilt Fellner mit. Doch sie hat bis zuletzt gehofft, dass es mit etwas Geduld noch für eine Wiedereröffnung reicht.
Jetzt stehe ich am Ende alleine da.
Doch nach über 30 Jahren, in denen sie wie eine Wilde geackert hat, ist klar: Es geht nicht mehr weiter. „Ich habe immer versucht, jedem zu helfen, Mitarbeiter einzustellen und alles möglich zu machen. Jetzt stehe ich am Ende alleine da“, erzählt sie mit Tränen in den Augen. Sie war und ist Apothekerin mit Leib und Seele, es liegt ihr im Blut. Zum Schluss will sie wenigstens mit den Halbwahrheiten aufräumen, die in der örtlichen Gerüchteküche herumgeistern, auf das politische Versagen aufmerksam machen und welche Konsequenzen die Online-Bestellungen für den Einzelhandel haben. „Alle wollen eine Apotheke vor Ort, heißt es doch immer.“
Der Blick geht nach vorne
Doch all der Frust hilft ihr nicht weiter, sie versucht nach vorne zu blicken. „Ich muss einen Schlussstrich ziehen, so schwer es mir auch fällt. Vielleicht eröffne ich wieder meine medizinische Fußpflege, dann sehe ich wieder manche Kunden. Es läuft schon weiter“, bleibt sie optimistisch.
Derzeit hat sie auch mehrere Vorstellungsgespräche und hofft, als freiberufliche Apothekerin eingestellt zu werden. Einmal Apotheke, immer Apotheke: Fellner kann eben nicht ohne. (ms)


