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Die Ereignisse der letzten Apriltage

Mythos der letzten „Festung in den Alpen“: Als der Krieg 1945 in den Berchtesgadener Talkessel kam

Ein Mann bugsiert eine Fliegerbombe, die an einem Seil hängt.
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Mathias Irlinger kennt die Abläufe, als der Krieg in den Talkessel kam.

Achtzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs bleibt Berchtesgaden ein Ort, an dem sich die Bruchlinien der Geschichte auf engstem Raum verdichten. Hier, wo der Nationalsozialismus seine alpinen Machtträume konkretisierte, geriet der Weltkrieg in den letzten Apriltagen 1945 zur greifbaren Realität. Die Region wurde zu einem Brennglas für den Zusammenbruch des Regimes – und zu einer Bühne für die letzten Szenen eines zerstörerischen Machtapparats, weiß Dr. Mathias Irlinger vom Institut für Zeitgeschichte.

Berchtesgaden - Irlinger, Bildungsreferent an der Dokumentation Obersalzberg, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Nationalsozialismus. Eng verknüpft ist die NS-Zeit mit Berchtesgaden und der Schaltstelle, dem Obersalzberg, von wo aus Hitler waltete. Am 8. Mai jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs und gleichzeitig die Befreiung von Nationalsozialismus zum 80. Mal.

Schon 1943 wurden erste Luftschutzmaßnahmen in Berchtesgaden umgesetzt. „Es gab Flakstellungen, unter anderem am Grünstein und an der Roßfeldstraße“, sagt Historiker Irlinger. Diese sollten den Talkessel sichern. Gebäude wie die Auer Kirche wurden mit Tarnnetzen verhüllt, die Bauten am Obersalzberg dunkelgrün und braun gestrichen, um aus der Luft weniger sichtbar zu sein. Mit künstlichem Nebel versuchte man bei Anflug feindlicher Flugzeuge, die Sicht zu nehmen - eine Maßnahme, die mehrfach eingesetzt wurde.

Schutzräume für bis zu 3000 Menschen

Auch die Bevölkerung war sensibilisiert: Bei Fliegeralarm hieß es, weiße Wäsche abzunehmen, sich mit gepackter Tasche in Luftschutzstollen zu retten. In Berchtesgaden gab es vergleichsweise viele Schutzräume, etwa im Salzbergwerk, am Lockstein oder im Marktbereich. Bis zu 3000 Menschen fanden beim Luftangriff allein am Obersalzberg Schutz, verdeutlichen von Irlinger zitierte Quellen. Zum Vergleich: In München standen für 700.000 Einwohner nur 60.000 Bunkerplätze zur Verfügung - davon 30.000 reserviert für die NS-Elite.

Diese 500-Kilo-Bombe blieb beim Abwurf über Berchtesgaden heil - und ist heutzutage in der Dokumentation Obersalzberg ausgestellt.

Am 25. April 1945 verdichtet sich die globale Kriegsrealität in der Luft über dem Obersalzberg. „Über 300 britische Bomber starten von zwölf Stützpunkten“, sagt der Bildungsreferent. Das Ziel ist nicht einfach ein militärisches Objekt, sondern das architektonisch und ideologisch überhöhte Herzstück des „Führerhauptquartiers“.

Fataler Fehler kostet Mutter mit Kindern das Leben

31 Tote sind am Obersalzberg und in umliegenden Ortschaften am Ende zu beklagen, 190 in Bad Reichenhall. Besonders erschütternd ist der irrtümliche Abwurf auf das Helmlehen in der Unterau: Eine Mutter, vier Kinder und drei weitere Personen sterben. Ein tragisches Unglück, sagt Irlinger. Zwar bleibt der Großangriff der einzige Luftangriff auf Berchtesgaden, doch die psychologische Wirkung ist immens. Das NS-Regime spricht von einem „Terrorangriff der Alliierten“, obwohl sie selbst mit Luftangriffen auf polnische Kleinstädte 1939 den verheerenden Luftkrieg in Gang setzten.

Berchtesgaden ist bei Kriegsende nicht nur Machtzentrum, es war ebenso Zufluchtsort. Der Talkessel gilt als Mikrokosmos im Ausnahmezustand, erklärt Irlinger. Zwangsarbeiter aus über 30 Nationen, Vertriebene, Kinderlandverschickte, Geflüchtete aus den Ostgebieten: In der Struber Kaserne leben 2000 Ukrainer, in der Insula 400 litauische Familien. Die ehemaligen Arbeiterbaracken sind mit Sudetendeutschen belegt. In Notunterkünften leben Menschen aus deutschen Städten, die vor dem Luftkrieg geflohen sind. Viele sitzen auf „gepackten Koffern“, wollen zurück in ihre Heimat, weiter nach Nordamerika oder wissen nicht, wohin sie sonst sollen. All das verdichtet sich auf engem Raum - es kommt zu Reibereien, Zwangseinquartierungen, Spannungen. Die einen haben keinen Ausweg, die anderen suchen Schutz.

Hitlers ehemalige Reichskanzlei im Ortsteil Stanggaß in Bischofswiesen wird heute als Wohngebäude genutzt.

Der sogenannte Nero-Befehl

Nach dem Angriff herrscht Unruhe, aber auch eine gewisse Klarheit. Hitler hatte seine Generäle angewiesen, alles zu zerstören, was den Alliierten nützen könnte - der sogenannte Nero-Befehl. Doch vor Ort handeln Menschen anders. Hitler begeht am 30. April Selbstmord. Göring, bis dahin noch am Obersalzberg, wird wenige Tage zuvor von der SS verhaftet. Angehörige der NS-Elite wie Gretl Braun, Görings Familie, Hitlers Adjutanten und Sekretäre befinden sich in Auflösung. Die Gesamtlage ist unübersichtlich, doch allen ist klar: Der Krieg ist verloren.

Der Mythos von der letzten „Festung in den Alpen“ zirkuliert. Die Alliierten erwarten tausende SS-Männer, die bis zum letzten Mann kämpfen - eine Vorstellung, die sich glücklicherweise als falsch erweist. Bernhard Frank, SS-Kommandeur, und Berchtesgadens Landrat Karl Theodor Jakob verständigen sich auf eine kampflose Übergabe. Ein Flugblatt fordert Ruhe und Disziplin. 

Bürgermeister will einschreiten und stirbt bei Brückensprengung

Die alliierten Kräfte - eine französische und zwei amerikanische Einheiten - rücken am 4. Mai aus drei Richtungen vor. Über Grödig, den Hallthurm und die Alpenstraße gelangen sie nach Berchtesgaden. In Reichenhall und Salzburg gibt es letzte Kampfhandlungen. In Unterjettenberg sprengen SS-Männer sogar noch eine Brücke - der Bürgermeister, der sie daran hindern will, wird mit in den Tod gerissen. In Bischofswiesen werden neun deutsche Soldaten und SS-Männer erschossen. Unklar bleiben die Hintergründe. Es gibt Berichte über Vergewaltigungen durch französische Soldaten. Doch im Vergleich zu anderen Regionen bleibt das große Blutvergießen aus.

„Weiße Fahnen wehten am Hallthurm“, sagt Irlinger. Am Berchtesgadener Schlossplatz findet die eigentliche Übergabe des Ortes an die Alliierten statt. Mehrere SS-Männer und Soldaten fliehen noch über den Hirschbichl in Richtung Lofer. Dort ergeben sich nach letzten Gefechten zwölf Generäle. SS-Mann Bernhard Frank wird später verhaftet - und schreibt Jahrzehnte später zweifelhafte Broschüren über den Obersalzberg. Die Geschichte schließt seltsame Schleifen, weiß auch der Bildungsreferent.

„Der Obersalzberg zählt zu den letzten Symbolorten des Dritten Reichs“, sagt Irlinger. Die Ereignisse vom 4. und 5. Mai 1945 markieren das Ende einer dunklen Epoche. Dank Erinnerungsorten wie der Dokumentation Obersalzberg wird an diese Zeit erinnert. Heute zählt Berchtesgaden zu einer der beliebtesten Tourismusregionen Bayerns. (kp)

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