Workshop der Dokumentation Obersalzberg
Wenn Mediziner töten: Ärzte und Krankenschwestern als Täter im Nationalsozialismus
Die Zeit des Nationalsozialismus galt auch als eines der dunkelsten Kapitel der Medizingeschichte. Unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Forschung und vermeintlicher „rassenhygienischer“ Notwendigkeiten ließen sich zahlreiche Ärzte und Krankenschwestern instrumentalisieren. Bildungsreferentin Lena Thurnhausstatter von der Dokumentation Obersalzberg gehört zu den Verantwortlichen hinter einem Workshop, der den Berufsstand von heute aufklären soll.
Berchtesgaden - Auf dem Tisch des Bildungszentrums, einen Steinwurf neben der Dokumentation Obersalzberg entfernt, hat Lena Thurnhausstatter etliche Folien samt Bildern ausgebreitet. Es ist der Stoff, den Ärzte und medizinisches Personal vermittelt bekommen, inklusive persönlicher Führung durch die Ausstellung. Sechs Stunden dauert der Einblick in die deutsche Medizinhistorie, der medizinische Verbrechen im Nationalsozialismus auf besondere Weise behandelt. Mediziner und Pflegepersonal wirken daran mit. „Die Nachfrage steigt“, berichtet Referentin LenaThurnhausstatter. Kliniken aus dem Landkreis Altötting, aus Bayern und dem benachbarten österreichischen Salzburg zeigen bereits Interesse.
Bereits in den 1920er-Jahren war die Idee der „Rassenhygiene“ in Deutschland verbreitet. Unter der NS-Diktatur wurde sie zu einer staatlich verordneten Doktrin. Ziel war es, die „genetische Reinheit“ des deutschen Volkes zu bewahren, wie es in Quellen heißt, und „minderwertiges Leben“ zu eliminieren.
Idee stammt von den Kliniken Südostbayern
„Die Würde des Menschen ist unantastbar”, betont Thurnhausstatter. Es ist Artikel 1 des heutigen Grundgesetzes. Der Satz gilt als so unverrückbar - und doch war und ist der Inhalt des Artikels nicht wie in Stein gemeißelt. Lena Thurnhausstatter kommt aus Ainring. Die junge Frau studiert in Salzburg unter anderem Jüdische Kulturgeschichte und arbeitet in der Dokumentation parallel zum Studium in Vollzeit als Bildungsreferentin und führt Besucherrundgänge durch. Derzeit verfasst sie ihre Abschlussarbeit: Es geht um jüdische Internierte im Schloss Laufen und in der Burg Tittmoning.
Dass es überhaupt zum Workshop kam, hat mit der Kliniken Südostbayern AG zu tun. Diese hatte sich an die Dokumentation Obersalzberg gewandt und eine Idee geäußert: Personal von heute über die Geschichte des eigenen Berufsstandes in der Vergangenheit aufzuklären. Wie viel Anteil hatten Medizin und Pflege an NS-Verbrechen tatsächlich? Wie stark war der Berufsstand in die Verbrechen während des Nationalsozialismus involviert?
Circa 400.000 Menschen zwangssterilisiert
Bereits 1933 erließ das NS-Regime ein Gesetz, das die zwangsweise Sterilisation von Menschen mit vermeintlichen Erbkrankheiten vorsah. Dazu zählten geistige Behinderungen, Schizophrenie, Epilepsie, erblich bedingte Blindheit oder Taubheit, zudem Alkoholismus. Bis 1945 wurden schätzungsweise 400.000 Menschen zwangssterilisiert. Etwa 5000 starben dabei, weiß Thurnhausstatter. Ärzte fungierten als Gutachter, Entscheider und Durchführer dieser Maßnahmen, das Pflegepersonal unterstützte. „Es ist eine enorm große Verantwortung, die die Leute in ihrem Beruf tragen”, sagt die Doku-Mitarbeiterin.
Mit dem Workshop, den sie gemeinsam mit dem Historiker Dr. Mathias Irlinger konzipierte, der unter anderem durch seine Vorträge wie über den Heldenstatus und die Glorifizierung des Paul von Hindenburg bekannt ist, soll das Bewusstsein über den eigenen Berufsstand geschärft werden. Auch heute gibt es noch Fälle, in denen medizinisches Personal wegen Vergehen verurteilt wird. So wurde der Pfleger Niels H. vor sechs Jahren des 85-fachen Mordes schuldig gesprochen. Der Fall gilt als die größte Mordserie der deutschen Nachkriegsgeschichte.
„Gnadentod“ für 300.000 Menschen
Ab Sommer 1939 bereitete Hitler am Obersalzberg, nur ein paar hundert Meter Luftlinie von der heutigen Dokumentation entfernt, das „Euthanasieprogramm“ vor, den ersten Massenmord im Nationalsozialismus. Bis Kriegsende wurden unter dem Deckmantel des „Gnadentodes“ rund 300.000 Menschen ermordet: Es ist nicht das einzige Verbrechen, an dem das Personal aus Medizin- und Pflegeberufen bereitwillig mitarbeitete.
Thurnhausstatter verfolgt mit dem Workshop am Erinnerungsort mehrere Ziele: Zum einen sollen sich die Teilnehmer intensiv mit der Rolle von Medizinern und Pflegekräften im Nationalsozialismus auseinandersetzen. Durch eine interaktive Positionierungsübung werden sie an das Thema herangeführt, um das Vorwissen zu aktivieren und das Interesse zu wecken. In der Folge wird mit historischen Quellen gearbeitet - darunter Bilder und Texte -, um sich einen Überblick über die NS-Ideologie im Gesundheitswesen zu verschaffen.
Auch der Obersalzberg war ein Zentrum für Täter
Der Workshop beleuchtet dabei zwei zentrale Aspekte: einerseits die Indoktrination, etwa durch die ideologische Schulung von Krankenschwestern oder die Vermittlung von „Rassenkunde“ in der Ausbildung. Andererseits die aktive Beteiligung von Medizinern an Verbrechen, darunter Zwangssterilisationen, Menschenversuche, Deportationen sowie die systematische Ausgrenzung jüdischer Ärzte aus dem Alltagsbild. Ein historisches Bild, auf dem mehrere hundert Krankenschwestern zu sehen sind, zeigt diese bei der Vereidigung auf Hitler mit entsprechendem Hitlergruß.
Ein Rundgang durch die Dauerausstellung der Dokumentation Obersalzberg verdeutlicht, wie dieser Ort nicht nur eine idyllische Kulisse, sondern auch ein Zentrum der Täter war. Hier wurden grundlegende Entscheidungen für den ersten systematischen Massenmord im Nationalsozialismus getroffen. Thurnhausstatters Absicht ist es, mit den Teilnehmern Exponatrecherche zu betreiben. Dabei vertiefen sie ihr Wissen durch entdeckendes Lernen. Sie analysieren originale Dokumente und persönliche Schicksale - darunter die Geschichte des Salzburger Buben Englbert Raiminius, der schließlich in Auschwitz Opfer der NS-Medizinverbrechen wurde.
Menschenversuche und die „Euthanasie“
Menschenversuche gab es unzählige: So etwa jener Dauerversuch an einem 37-jährigen Juden, an dem in einer Unterdruckkammer die in 12 Kilometer Flughöhe herrschenden Luft- und Druckverhältnisse simuliert und ausgetestet wurden. 30 Minuten lang konnte er insgesamt atmen. Nach vier Minuten begann die Versuchsperson zu schwitzen, nach fünf Minuten traten Krämpfe ein, bei Minute zehn wurde die Atmung schneller, ehe der Mann bewusstlos wurde. Nach 30 Minuten vernahm das medizinische Personal nur noch drei Atemzüge pro Minute - dann war die Versuchsperson tot.
„Aktuell handelt es sich noch um ein Nischenthema”, erklärt Thurnhausstatter, „aber mit unglaublich großem Potenzial.” Der Bedarf an solcher Thematik wachse und werde gerade erkannt. Am Täterort Obersalzberg lässt er sich besonders eindrücklich erzählen. So wird dort etwa auch die Personalie von Karl Brandt besprochen: Brandt war chirurgischer Begleitarzt Hitlers und häufig zu Gast am Obersalzberg, weiß die Bildungsreferentin. Er war einer der Beauftragten für die massenhaften Morde der Aktion T4 im Rahmen der sogenannten „Euthanasie“ in den NS-Tötungsanstalten, unter anderem Schloss Hartheim. Brandt war der Ranghöchste unter den Angeklagten im später stattfindenden Prozess gegen Mediziner beim Nürnberger Ärzteprozess.
Zwei Workshops haben bereits stattgefunden. Das Konzept soll weiter ausgearbeitet und in größerem Stil an Medizin- und Pflegepersonal aus dem bayerischen Raum vermittelt werden. (kp)

