„Wer füttert jetzt den Kanarienvogel“
Die erschütternde Realität der Deportationen: Ein Blick in die Vergangenheit
Historikerin Andrea Löw hat die Erlebnisse von Holocaust-Opfern in ihrem Buch zusammengefasst. Durch ihre Arbeit erhalten die Opfer eine Stimme. Die Veranstaltung im AlpenCongress Berchtesgaden erinnert an die systematischen Deportationen von Juden.
Berchtesgaden – „Wird je ein Mensch der Nachwelt sagen können, wie wir hier gelebt haben und gestorben sind?“ Worte wie die von Oskar Singer aus dem Ghetto Litzmannstadt in Polen fassen die Verzweiflung vieler Deportierter zusammen, die ihre Erlebnisse trotz unmenschlicher Umstände in Briefen und Tagebüchern festhielten. Prof. Dr. Andrea Löw, Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien beim Institut für Zeitgeschichte in München, hat die Notizen gesammelt und in ihrem Buch „Deportiert. Immer mit einem Fuß im Grab – Erfahrungen deutscher Juden“ gebündelt. Beim Obersalzberger Gespräche bekamen die Opfer eine Stimme.
Der Kleine Saal des AlpenCongress in Berchtesgaden war gut gefüllt, als Löw – begleitet von Schriftsteller und Hörbuchsprecher Gert Heidenreich – ihre Recherchen präsentierte. Kurz nach dem internationalen Holocaust-Gedenktag bot die Veranstaltung Gelegenheit, an eines der düstersten Kapitel der deutschen Geschichte zu erinnern: Die systematischen Deportationen von Juden ab 1941 ins von Nazideutschland besetzte Osteuropa.
Dr. Sven Keller, Leiter der Dokumentation Obersalzberg, erläuterte, warum das Thema so zentral ist. Anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz, der symbolisch für das Ende des Holocaust steht, betonte er: „Es geht hier um einen der vielen Anfänge, die dorthin führten.“ Im Mittelpunkt von Löws Lesung standen persönliche Aufzeichnungen, Auszüge aus Briefen, Postkarten sowie Tagebüchern. Verfasst wurden diese während beschwerlicher Transporte in Ghettos oder später in den Lagern selbst. Gert Heidenreich erweckte Löws zusammengefasste Aufzeichnungen zum Leben, indem er die persönlichen Zeilen der Opfer vorlas und diesen somit eine Stimme verlieh. Die Niederschriften sind ein Echo jener Sprachlosigkeit, die die Deportierten selbst empfanden. Oft fanden sie keine Worte für das Unbeschreibliche, das sie plötzlich erlebten. Für Andrea Löw, Leiterin des Zentrums für Holocauststudien am Institut für Zeitgeschichte, ist klar: Genau diese Zerrissenheit verleiht den historischen Quellen ihren Wert.
In ihrem Buch konzentriert sich Löw auf die Verschleppung jüdischer Menschen, etwa nach Riga, Minsk oder Warschau, wo sie in Ghettos und Lager gepfercht wurden. Löw nennt die Menschen beim Namen, Edith Blau etwa, die ihre Notizen auf einer Postkarte während der Zugfahrt von Bielefeld nach Riga verewigte. Der Fokus der Historikerin liegt auf den Ereignissen rund um die Deportation selbst – den unvorbereiteten Abholungen, den menschenverachtenden Transporten in unbeheizten Zügen und dem erschütternden Alltag, der die Deportierten in den Ghettos erwartete.
Die, die zuvor noch ein mehr oder weniger behütetes Leben in Deutschland geführt hatten, fanden sich von einem Tag auf den anderen in einer Welt wieder, die ihnen kaum noch Rationalität bot: Häufig wusste man bis zum Moment der Abholung nicht, wohin es gehen würde. Die Deportierten wurden absichtlich getäuscht, um Widerstand zu verhindern, weiß Löw. In einer einzigen Stunde musste man fast alles aufgeben – nur ein Koffer mit wenigen Habseligkeiten durfte mit. Eindrücklich sind die Notizen einer Frau, wie etwa der Ehemann zusammenbricht, als sie ihn holen: Er will seinen Namen nicht auf ein Stück Pappe schreiben, das er sich um den Hals hängen soll, schließlich sei er kein Verbrecher. Die Ehefrau versucht, ihn zu beruhigen, damit nichts Schlimmeres geschieht. Und kurz bevor er geht, fragt er nur: Wer füttert jetzt den Kanarienvogel?
Zerrissene Biografien beim Obersalzberger Gespräch: Der grausame Alltag deportierter Juden
Eine Augenzeugin berichtet, sie sei bei ihrer Ankunft in Riga auf Habseligkeiten und gefrorenes Essen gestoßen, das den kürzlich ermordeten lettischen Juden gehört hatte. Der Tod sei zu etwas geworden, an das sich die Menschen nach und nach gewöhnten, resümiert Löw.
Aufzeichnungen zeigen, wie Eltern ihre Kinder mit Schlafmittel vergiften, um sie nicht den Nazi-Schergen zu überlassen. Verzweifelte Menschen klammern sich an kleinsten Akten der Normalität in ihren Ghettos fest, etwa an kleinen Konzerten, Theateraufführungen oder gemeinsamen Fußballspielen – solange deren Umsetzung noch möglich war.
In der anschließenden Fragerunde berichtete Löw, wie schwierig es mitunter gewesen sei, die Briefe zu entziffern: Verblichenes Papier, Risse und Tintenflecken stehen sinnbildlich für die gewaltsam auseinandergerissenen Biografien. Besonders wertvoll sind jene original erhaltenen Aufzeichnungen aus den ersten Phasen der Deportation, als ein gewisser Briefkontakt mit Freunden und Verwandten noch möglich war, sagt die Historikerin. Später wurde dieser verboten. Die emotionale Last, die Teil der Recherche ist, sei oft groß gewesen, bezeugt Löw.
Allerdings: Sie arbeitet seit mehr als 20 Jahren am Thema und versucht daher, eine professionelle Distanz zu wahren – was vor allem bei besonders grausamen Berichten kaum gelingt. Ähnlich geht es Gert Heidenreich: Er habe gelernt, es auszuhalten. „Je mehr man sich damit befasst, desto unverständlicher wird es.“ Der Appell des Abends: Die Schrecken der Deportationen nicht allein als historisches Ereignis zu betrachten. Vielmehr ist es eine fortwährende Mahnung. „Nie wieder“ – dieser Gedanke, der nach dem Holocaust zur Maxime werden sollte, erweist sich angesichts fortdauernder antisemitischer Tendenzen weltweit als unvermindert aktuell, konstatierte Heidenreich. (kp)