Aktionstag „Zug hat Vorfahrt“ in Ainring
„Das sind die schlimmsten Momente“: Schüler für tödliche Gefahren im Zugverkehr sensibilisert
Leichtsinn, Ungeduld, Faulheit oder einfach mangelnde Aufmerksamkeit: Es gibt viele Gründe, die zu brenzligen Situationen an Bahnübergängen, Bahnhöfen oder Gleisen führen. Die Folgen fallen mitunter tödlich aus. Schüler der Realschule im Rupertiwinkel bekamen am Freitagmittag vorgeführt, wie real die Gefahr ist und wie lange ein Zug braucht, bis er zum kompletten Stillstand kommt. Und das erlebten sie auf besonders anschauliche Art und Weise.
Ainring - Die Aufregung unter den Sechstklässlern stieg beinahe minütlich. Und dann war es so weit: Die Gleise dröhnten und kündigten seine Ankunft an. Mit einem lauten Pfeifen begrüßte er die Wartenden - und setzte wie abgemacht zur Vollbremsung an. Von 90 Kilometern pro Stunde bis zum Stillstand, etwa 210 Meter Bremsweg: Da staunten nicht nur die Kinder. Groß war die Freude bei denjenigen, welche die ungefähre Haltestelle richtig erraten hatten. Doch der Aktionstag „Zug hat Vorfahrt“ veranschaulichte am Freitagmittag am Bahnhof Ainring ein ernstes Thema.
Denn immer wieder werden die Gefahren unterschätzt, immer wieder kommt es zu gefährlichen Situation. In ihrem Lagebericht zum Netz Berchtesgaden-Ruhpolding notierte die Bayerische Regiobahn (BRB) Dutzende Vorfälle innerhalb von zwei Jahren. So musste Ende April ein Lokführer seinen Zug auf der Strecke zwischen Freilassing und Bad Reichenhall abbremsen, weil eine Person im Gleisbett stand. Erst als der Zug zum Stillstand gekommen war, verließ die Person die Gleise.
Immer wieder knallt es
Zu den jüngsten Vorfällen in der Region gehört unter anderem ein Zusammenstoß zwischen einem Auto und einem Zug bei Waging am See, bei dem ein Mann schwer verletzt wurde. Und in Wasserburg ist der Viehhausener Bahnübergang sogar für seine Unfallhäufigkeit berühmt, weshalb dort eine Schranke installiert werden soll. Auch im Berchtesgadener Land oder im Chiemgau gibt es immer wieder brenzlige Situation. Vor allem die Strecke zwischen Freilassing und Bad Reichenhall gilt als besonders anfällig für (Beinahe-)Unfälle.
Mehr als 95 Prozent der Unfälle an Bahnübergängen sind auf Fehlverhalten der Fußgänger sowie der Auto- und Radfahrer zurückzuführen.
„In diesem Jahr hatten wir schon sieben Schnellbremsungen. Im letzten Jahr gab es zwei tödliche Unfälle“, verdeutlichte BRB-Geschäftsführer Arnulf Schuchmann am Freitag die Dringlichkeit zur Unfallprävention von Fußgängern und Radfahrern, aber auch Autofahrern. Weil sich die Zahlen nicht besserten, ergriff er die Initiative für einen Aktionstag im Berchtesgadener Land. Daran beteiligten sich auch der ADAC, die DB Sicherheit und die Bundespolizei. „Mehr als 95 Prozent der Unfälle an Bahnübergängen sind auf Fehlverhalten der Fußgänger sowie der Auto- und Radfahrer zurückzuführen“, verdeutlichte auch Rüdiger Lode, Vorstand für Verkehr, Technik, Umwelt des ADAC Südbayern.
„Schafft mehr Eindruck“
Deshalb ist auch Michaela Hofmeister, Präventionsbeamtin der Bundespolizei Freilassing, immer wieder in Schulen unterwegs, um die Schüler über die Folgen des Fehlverhaltens im Gleisbereich aufzuklären „Die Schüler wissen eigentlich, was sie dürfen und was nicht. Doch wenn sie eine Gefahrenbremsung eines Zuges live mitverfolgen, schafft das mehr Eindruck“, meinte sie. Neben den rechtlichen Konsequenzen kann ein solches Bremsmanöver auch für Verletzte im Zug sorgen, die dann Schmerzensgeld fordern.
Wie schnell es gehen kann, erklärte Hofmeister am Beispiel eines 14-Jährigen, der mit seinem Fahrrad auf einem kleinen Trampelpfad unterwegs war. Als er sein Rad über die Gleise schieben wollte, blieb der Hinterreifen stecken. Der Junge zog und machte und tat, doch es half nichts.
Ein Unfallfahrrad als eindringliches Beispiel
„Zum Glück hat er sich dazu entschieden, von den Gleisen Abstand zu nehmen und es nicht weiterzuversuchen, als der Zug kam.“ Es kam niemand zu Schaden, aber da der Junge 14 Jahre alt war und damit zum Teil strafmündig, wurden gegen ihn Ermittlungen wegen des gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr eingeleitet. Ein verunfalltes Fahrrad, das nach einer Kollision an den Gleisen zum Zwecke der Veranschaulichung aufgehoben wurde, zeigte den Realschülern, welche Folgen der Zusammenstoß haben kann.
Je nach Witterung, Geschwindigkeit sowie Länge und damit Gewicht des Zugs, kann der Bremsweg bis zu einem Kilometer betragen. Umgerechnet ist das die Länge von zehn Fußballfeldern. Laut Ive Knoll, Netzleiter im Bereich Berchtesgaden-Ruhpolding, wird dann jedes Mal eine ganze Kette an Ereignissen ausgelöst.
Lokführer leiden unter den Folgen
Bei jeder Schnellbremsung werden automatisch die Rettungskräfte, darunter auch die Bundespolizei, alarmiert. Denn vor Ort muss nach der Person gesucht werden, da sich diese auch verletzt haben könnte. Dann werden eine Streckensperrung oder ein Fahren auf Sicht veranlasst. Knoll: „Meistens ist die Person gar nicht mehr da. Und durch einen solchen Einsatz gibt es mindestens einen halben Tag Verzögerungen im Fahrplan, wenn nicht sogar mehr.“
Das ärgert dann die Fahrgäste, weil es zu Verspätungen oder Ausfällen kommt. Wie Markus Köfler aus seinem Alltag berichtete, bekommt dann das Personal den Frust ab. „Einmal habe ich eine Durchsage im Zug gemacht, dass der Grund für die Verzögerungen gerade an den Gleisen entlangläuft, weil es mich so sehr geärgert hat.“ Der Zugführer erlebte schon viele Schreckmomente, die letzten lagen erst zwei Tage zurück. „Ich könnte stundenlang Beispiele aufzählen“, machte Köfler klar, dass solche Zwischenfälle häufiger vorkommen.
Wie viele seiner Kollegen musste er auch schon mitansehen, wie eine Vollbremsung nicht mehr ausreichte und der Unfall tödlich endete. „Jeder Schreckmoment ist auch ein Schreckmoment für uns“, machte er klar. Nicht selten kommt es zu wochenlangen Krankschreibungen. Viele Betroffene müssen psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, um das Erlebte zu verarbeiten. „Manchmal erleben wir in einer Sicht gleich mehrere Vorfälle. Das macht einen fertig.“ Als Köfler darüber sprach, dass er auch schon tödliche Unfälle erlebte, kämpfte er mit den Tränen und rang um Worte. „Das sind die schlimmsten Momente. Man leitet die Bremsung ein und kann dann nichts mehr unternehmen. Man sitzt da und ist nur noch Passagier.“
Schule nimmt Verkehrssicherheit sehr ernst
Selbst die Sechstklässler erzählten, wie sie schon gefährliche Situationen an Bahnhöfen oder Bahnübergängen erlebt hatten. „Ein Junge ist mit seinem Skateboard am Bahnhof ausgerutscht und sein Skateboard landete im Gleisbett. Er hat es noch schnell geholt, bevor der Zug kam“, erzählte der elfjährige Johannes Sternemann. Und die zwölfjährige Mia Schäfer befand sich einmal an einem Bahnübergang selbst in Gefahr, als sie mit ihrem Fahrrad die andere Seite erreichen wollte. „Die roten Leuchten haben nicht geblinkt, und auf einmal gingen die Schranken herunter, als ich in der Mitte war. Ich bin schnell rückwärts gefahren, weil der Zug gleich kam.“
Ihr Lehrer Christian Daxl wünschte sich, dass die Kinder von diesem Aktionstag viel mitnehmen und sich auch in Zukunft der Gefahren bewusst sind. So oder so, das Erlebte soll im Nachhinein im Unterricht nochmal behandelt und besprochen werden. Die Schule will für Verkehrssicherheit sensibilisieren und lässt schon mal vom Technischen Hilfswerk einen Lkw in den Schulhof kommen, damit die Schüler lernen, was es mit dem toten Winkel auf sich hat. „Je älter die Schüler werden, desto mehr nehmen sie eine Laissez-faire-Haltung. Aber ich glaube, je früher sie mit solchen Themen konfrontiert werden, desto eher erinnern sie sich später mal daran.“
Auf seiner Homepage informiert die BRB über das richtige Verhalten an Bahnübergängen.

