Arbeitskämpfe
Streikwelle erfasst Deutschland: Kann das Streikrecht geändert werden?
Erst der Bahn-, dann der Flugverkehr: Gewerkschaften untermauern ihre Forderungen gerade verstärkt mit Streiks. Politiker und Experten fordern nun eine Änderung des Streikrechts.
Berlin – Deutschland wird im noch jungen Jahr 2024 von einer Streikwelle überzogen: Erst legt ein Streik der Eisenbahner den Bahnverkehr lahm, dann der Arbeitskampf der Mitarbeitenden der Flughäfen den Flugverkehr. Nun wird in der Politik laut überlegt, ob Gesetzesänderungen und Einschränkungen der Streikrechte möglich wären. Dabei belegt Deutschland im europäischen Ranking der Ausstände einen der hinteren Plätze. Ein Überblick.
Warum wird jetzt eigentlich so viel gestreikt?
Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hat Deutschland eine Inflation erlebt, die so seit den 1970er Jahren nicht mehr vorgekommen ist. Die Kosten für Verbraucherinnen und Verbraucher schossen in die Höhe, Energie verteuerte sich stark und auch die Lebensmittelpreise zogen deutlich an. Gleichzeitig erhielten viele Branchen im vergangenen Jahr zwar deutliche Gehaltssteigerungen von bis zu zehn Prozent, die Reallöhne sind verglichen mit 2022 aber um vier Prozent gesunken. Gewerkschaften fordern nun noch höhere Löhne, um den Kaufkraftverlust auszugleichen.
Zudem wollen die Gewerkschaften ihre Arbeitsbedingungen verbessern, fordern beispielsweise kürzere Arbeitszeiten oder eine Viertagewoche. Ein wichtiger Faktor ist hier der Fachkräftemangel: Die Gewerkschaften argumentieren, dass kürzere Arbeitszeiten den Job attraktiver machen und dem Personalmangel entgegenwirken. Dem halten die Unternehmen entgegen, dass die Personaldecke bereits heute dünn sei und eine Absenkung der Arbeitszeit den Mangel weiter verschärfe.
Die Krankenkassen und auch Wirtschaftsexperten führen wiederum an, dass die Beschäftigten auch wegen des Fachkräftemangels immer mehr belastet werden – führt dies etwa zu krankheitsbedingten Ausfällen, bildet sich ein Teufelskreis. In den Verhandlungen profitieren die Gewerkschaften zugleich von einer verbesserten Verhandlungsposition durch den Fachkräftemangel.
Und der Staat kann das mit dem Streikrecht nicht einfach regeln?
Nicht wirklich. In Deutschland können Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ihre Tarifverträge weitgehend autonom und ohne staatlichen Einfluss verhandeln. Es gilt die sogenannte Tarifautonomie, in die sich der Staat nicht einmischt. Nur 2015 griff die damalige Bundesregierung in die Tarifautonomie ein, indem sie einen allgemein geltenden Mindestlohn einführte.
In der Vergangenheit funktionierte die Verhandlungen allerdings oftmals ohne Streiks. Derzeit erlebe dieses Modell jedoch „seine Stunde der Wahrheit“, sagte Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft gegenüber der Nachrichtenagentur AFP und fügte hinzu: „Während der Pandemie war die Konzessionsbereitschaft der Gewerkschaften sehr hoch, aber das ist jetzt vorbei.“
Was sagen Kritiker und was wollen sie ändern?
Stimmen aus der Politik stellen die Verhältnismäßigkeit einiger Streiks schon infrage: Der Arbeitskampf der Lokführergewerkschaft GDL zeige, „dass unser System der Sozialpartnerschaft mit der Tarifautonomie nur dann funktioniert, wenn sich alle Beteiligten mäßigen“, sagte etwa CDU-Chef Friedrich Merz. Andernfalls „ist das System gefährdet“. Das Streikrecht dürfe es „nicht um jeden Preis“ geben, meint auch die Chefin der Mittelstandsunion, CDU-Politikerin Gitta Connemann.
Aus der FDP gab es ähnliche Stimmen. Sie setzen sich unter andere für eine Schlichtungspflicht vor einem geplanten Streik ein. Aus der SPD kam jedoch eine Absage: „Das Streikrecht ist ein wichtiges Grundrecht und entscheidender Faktor für faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen“, sagte der arbeitsmarktpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Sebastian Roloff, dem Tagesspiegel. „Dementsprechend verbietet sich eine Einschränkung.“
Kann das Streikrecht überhaupt geändert werden?
Eine Anpassung des Streikrechts wäre in Deutschland durchaus möglich, erklärt Rechtswissenschaftler Frank Bayreuther von der Universität Passau, gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Der Gesetzgeber ist ohnehin seit Jahrzehnten aufgerufen, das bislang nur durch die Rechtsprechung geprägte Arbeitskampfrecht gesetzlich zu regeln. Das ist sein Verfassungsauftrag, und er hat da durchaus einen Gestaltungsspielraum“, so Bayreuther.
Und was könnte dann am Streikrecht geändert werden?
Doch bislang gebe es nicht einmal eine Einigung auf grundlegende Eckdaten. Bei einer Änderung wäre laut dem Experten eine Schlichtungsvorgabe denkbar – also, dass die Tarifpartner zu einem Schlichtungsgespräch unter der Führung eines neutralen Dritten zusammenkommen müssen, bevor es zu einem Streik kommen kann.
Das sei laut Bayreuther zwar sinnvoll, doch damit würden Streiks noch keineswegs umfassend minimiert werden. „Wenn man die Tarifpartner bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt in die Schlichtung zwingt, dann könnten vor allem die Gewerkschaften diese als eher lästige Formalie durchlaufen, um im Anschluss dann so rasch wie möglich zu streiken, um ihren Forderungen richtig Nachdruck zu verleihen“, sagt der Experte dem RND.
Streikrecht: Machen das andere Länder besser?
Auch andere Länder können bei einer möglichen Reform des Streikrechts nicht uneingeschränkt als Vorbilder gelten: So gibt es Frankreich, Italien oder Großbritannien zwar bereits verhältnismäßig strenge gesetzliche und teils auch gut erprobte Vorgaben für Streiks – doch dort wird im Vergleich häufiger gestreikt als in Deutschland. Zahlen der European Trade Union (Etui) zeigen, dass Arbeitnehmende in Deutschland zwischen 2000 und 2022 deutlich seltener und dann auch kürzer die Arbeit niedergelegt haben als ihre Kollegen in Frankreich, Belgien, Spanien oder dem Vereinigten Königreich. In Frankreich fielen zwischen 2020 und 2022 rund 79 Arbeitstage pro 1000 Beschäftigten weg, in Deutschland waren es knapp 18 Tage.
Mit Material der AFP
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