Wachstumsaussichten auf „historischem Tiefstand“
Umfassender Umbau: So wollen die Wirtschaftsweisen die Rente retten
Die Wirtschaftsweisen fordern einen grundlegenden Umbau des Rentensystems und schrecken dabei auch vor unpopulären Aussagen nicht zurück.
München/Berlin - Die fünf Wirtschaftsweisen haben die Bundesregierung zu einem umfassenden Umbau des Rentensystems in Deutschland aufgefordert. Angesichts der geltenden Regelung und des bevorstehenden Eintritts der Babyboomer in den Ruhestand drohe bei der gesetzlichen Rente „ein sinkendes Sicherungsniveau bei stark steigenden Beitragssätzen“, warnen die Experten in ihrem am Mittwoch veröffentlichen Jahresgutachten. Dies mache eine „langfristig orientierte Reform der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) erforderlich“, heißt es in dem 445 Seiten umfassenden Konvolut unter dem Titel „Wachstumsschwäche überwinden – In die Zukunft investieren“.
Um die Finanzierungsprobleme der GRV zu lösen, reiche eine „einzelne Reformoption jedoch nicht aus“, erklärte der Wirtschaftsweise Prof. Martin Werding. Stattdessen bedürfe es einer Kombination verschiedener Maßnahmen. Kernelement müsse dabei die Kopplung des Renteneintrittsalters an die weiter steigende Lebenserwartung sein.
Außerdem plädiert der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage (SVR) für eine Inflationsanpassung der Rente. Anders als bislang würde sich die Höhe der Bestandsrenten dann nicht mehr an der allgemeinen Lohnentwicklung orientieren, sondern an der Entwicklung der Verbraucherpreise. Auf diese Weise bliebe die Kaufkraft der bestehenden Renten zwar erhalten. Von möglichen Steigerungen der Reallöhne – etwa, weil die Gehälter stärker steigen als die Inflation – hätten künftige Rentner-Generationen dann aber nichts. International ist die Kopplung an die Inflationsrate durchaus üblich, wie ein Blick nach Italien oder Frankreich zeigt. Andere Länder wie die Schweiz oder Finnland setzen bei der Rentenanpassung hingegen auf Mischmodelle „aus Lohn- und Verbraucherpreisentwicklung“, heißt es im Gutachten.
Neue Bemessungsgrundlageemessung
Künftig solle der Rentenanspruch zudem nach der Einkommenshöhe gestaffelt werden, empfehlen die obersten Wirtschaftsberater der Bundesregierung. Wer wenig verdient, erwirbt überproportional höhere Rentenansprüche. Wer viel verdient, solle hingegen künftig etwas geringere Ansprüche sammeln können als bislang. Durch diesen Korrekturfaktor wollen die Wirtschaftsweisen das zuletzt weiter gestiegene Risiko der Altersarmut von Geringverdienern deutlich verringern.
Harsche Kritik an Rentenplänen der Ampel
Deutliche Kritik übten die Experten an der von der Ampel geplanten Festschreibung des Renten-Sicherungsniveaus von 48 Prozent. Dies sei „keine nachhaltige Lösung“, sondern verstärke „den absehbaren Anstieg der Beitragssätze noch“ und verschärfe damit den Verteilungskonflikt zwischen Rentenbeziehenden und Beitragszahlenden, bemängelte das Gremium. Künftig müssten die Lasten zwischen beiden Gruppen aber fairer geteilt werden. Nach den derzeit geltenden Regeln erhalten Rentner nach 45 Beitragsjahren mindestens 48 Prozent des jeweiligen Durchschnittsverdienstes.
Außerdem forderten die Ökonomen erneut die Einführung einer ergänzenden Kapitaldeckung über einen öffentlich verwalteten Fonds, der stark auf Aktien setze und im Wettbewerb zu privaten Anbietern stehen solle. Nach den Vorstellungen des SVR sollten dabei grundsätzlich alle Arbeitnehmer einbezogen werden, es sei denn, sie würden ausdrücklich widersprechen.
Forderungen, zukünftig auch Beamte zur Zahlung in die Rentenkasse heranzuziehen, lehnten die Ökonomen ab. Kurzfristig würde die GRV dadurch zwar entlastet. Langfristig würden die Finanzierungsprobleme der Rentenkasse wegen der im Schnitt höheren Lebenserwartung von Beamtinnen und Beamten damit allerdings weiter verschärft, warnt das Quintett.
Konjunktur: Wirtschaftsweise vorsichtiger als IWF
Mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland zeigten sich die Regierungsberater überraschend vorsichtig. Für das laufende Jahr erwarten die Wirtschaftsweisen jetzt einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 0,4 Prozent. Für 2024 geht der Sachverständigenrat zwar wieder von einem leichten BIP-Wachstum aus. Doch liegt die Prognose mit einem Plus von 0,7 Prozent nur noch gut halb so hoch wie im Frühjahr.
„Die konjunkturelle Erholung in Deutschland verzögert sich“, schreiben die Volkswirte. Zur Begründung für ihre Einschätzung verweisen die Experten auf das schwierige Umfeld. So dämpften die gestiegenen Zinsen Investitionen und die Nachfrage am Bau. Allerdings dürfte sich der private Konsum wegen des erwarteten Rückgangs der Inflation und steigender Löhne im nächsten Jahr etwas erholen. 2024 dürfte die Teuerungsrate laut Sachverständigenrat noch bei 2,6 Prozent liegen nach 6,1 Prozent im laufenden Jahr.
Trübe Aussichten
Auf die nächsten Jahre blicken die Ökonomen indes mit großer Sorge. So bremsten das sinkende Arbeitsvolumen, ein veralteter Kapitalstock und fehlende innovative Unternehmen die Wirtschaft in Deutschland, monieren die Experten. Die Wachstumsaussichten seien dadurch „auf einem historischen Tiefstand“.
Um neue Impulse zu setzen und diese Schwächen zu überwinden, müssten etwa die „öffentlichen Investitionen in Infrastruktur, Bildung, Kinderbetreuung, Forschung und Entwicklung sowie Wohnungsbau weiter steigen“, sagte der Wirtschaftsweise Prof. Achim Truger am Rande der Vorstellung des Jahresgutachtens gegenüber IPPEN.MEDIA. Auch bei der Förderung von privaten Investitionen müsse der Staat draufsatteln.