Schlechte Arbeitsmoral?
Deutsche arbeiten zu wenig: Die neue Stärke der Arbeitnehmer bereitet Unternehmen Kopfzerbrechen
Deutschland befindet sich in einer Pattsituation: Der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften belastet die Wirtschaft, während die Menschen weniger arbeiten. Wie ist das möglich?
München – Es ist schwer zu begreifen, aber die Fakten sind da: In Deutschland sind heute so viele Menschen in Arbeit wie noch nie zuvor in der Geschichte des Landes. Gleichzeitig wird aber nicht mehr gearbeitet, tatsächlich ist die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden pro Erwerbstätigen auf einem Rekordtiefstand. Das ist für die Wirtschaft ein Problem – und offenbart eine sich verändernde Arbeitskultur im Land, auf die Staat und Unternehmen eine Antwort finden müssen.
Mehr Menschen in Arbeit, weniger Arbeitsstunden als je zuvor: Merz beklagt schlechte Moral
Seit der Wiedervereinigung ist die Zahl der Arbeitsstunden pro Erwerbstätigem in Deutschland kontinuierlich zurückgegangen. Gleichzeitig ist die reine Zahl der Personen in Arbeit immer weiter gestiegen, sodass 2024 mehr Menschen in Arbeit waren als je zuvor.
Diese Diskrepanz beklagte jüngst auch der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz beim Branchengipfel der Chemie- und Pharmaindustrie: „Wir haben heute mehr Menschen in Arbeit als je zuvor und gleichzeitig wird nicht eine Stunde mehr gearbeitet“. Das spiegele aus seiner Sicht eine Veränderung in der Kultur wider. „Arbeit ist doch nicht eine unangenehme Unterbrechung der Freizeit! Das ist etwas, was Freude bereitet, das einen mit Stolz erfüllt. Da müssen wir wieder hinkommen“, so Merz.
Doch das gestaltet sich schwierig. Denn das Phänomen wurde schon oft und detailliert untersucht, mit einem Ergebnis: Dass die Zahl der Arbeitsstunden pro Kopf sinkt, ist auch der Wille der Bevölkerung. Vor allem bei Männern geht die Zahl der Arbeitsstunden zurück, weil junge Väter heutzutage mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen wollen, als die Generation davor. Dafür steigen die geleisteten Arbeitsstunden der Frauen.
46 Millionen Menschen gehen in Deutschland 2024 einer Arbeit nach
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) gehen aktuell 46 Millionen Menschen in Deutschland einer Arbeit nach, davon sind 34,9 Millionen Menschen in sozialversicherungspflichtigen Berufen. Pro Kopf haben diese Menschen im Jahr 2023 durchschnittlich 1.345 Stunden gearbeitet. 1991 haben 38,7 Millionen Menschen in Deutschland gearbeitet und das pro Kopf 1.554 Stunden lang.
| Jahr | Erwerbstätige | Jährliche Arbeitsstunden pro Kopf |
|---|---|---|
| 1991 | 38,871 Mio | 1.554 |
| 1995 | 38,042 Mio | 1.531 |
| 2000 | 39,971 Mio | 1.466 |
| 2005 | 39,311 Mio | 1.432 |
| 2010 | 41,048 Mio | 1.426 |
| 2015 | 43,122 Mio | 1.401 |
| 2020 | 44,915 Mio | 1.315 |
| 2023 | 45,926 Mio | 1.345 |
Quelle: sozialpolitik-aktuell.de
Wie diese Diskrepanz zustande kommt, haben Ökonomen genauer unter die Lupe genommen. Aus einem Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) vom Frühjahr 2024 geht hervor, dass die niedrige durchschnittliche Arbeitszeit vor allem auf die Frauenerwerbstätigkeit zurückgeht. Auch ein Forschungsbericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) kam 2023 zu diesem Schluss.
Viele Frauen arbeiten in Deutschland in Teilzeit
In den Jahren von 1991 bis heute ist die Zahl der Frauen in Arbeit deutlich gestiegen, laut Destatis um 16 Prozent. Mehr als drei Viertel (77 Prozent) aller Frauen in Deutschland gehen heute einer Arbeit nach, bei Männern beträgt die Quote 85 Prozent. Das ist also ein Grund für die steigenden Erwerbstätigenzahlen in Deutschland.
Doch diese Frauen arbeiten in Deutschland oft in Teilzeit, „was zu einer im europäischen Vergleich relativ geringen durchschnittlichen Arbeitszeit aller Beschäftigten von 34,7 Wochenstunden (2022) führt“, erläutert das DIW. „In Spanien betrug die Erwerbsbeteiligung von Frauen 2022 beispielsweise 64 Prozent, mit einer Teilzeitquote von knapp 20 Prozent. Dies zeigt sich in der dort höheren durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 37,6 Stunden.“
Frauen möchten mehr arbeiten, Männer möchten weniger arbeiten
Das ist ein Problem für die deutsche Wirtschaft, die gerade mit einem Fachkräftemangel zu kämpfen hat. Doch auch aus Sicht der Betroffenen ist das keine wünschenswerte Entwicklung: Fragt man Frauen und Männer, dann äußern Frauen häufiger den Wunsch nach mehr Arbeitszeit. Männer hingegen würden eher weniger arbeiten wollen. Frauen leiden nach Daten des DIW viel häufiger unter einer Unterbeschäftigung, als Männer:
| Unterbeschäftigung gesamt | ...bei Männern | ...bei Frauen | |
|---|---|---|---|
| bei Personen mit Kindern | 12 Prozent | 6 Prozent | 18 Prozent |
| bei Personen ohne Abschluss | 31 Prozent | 23 Prozent | 50 Prozent |
| ... mit Berufsausbildung | 10 Prozent | 7 Prozent | 14 Prozent |
| ... mit Hochschulabschluss | 9 Prozent | 7 Prozent | 11 Prozent |
| ... mit einem Minijob | 37 Prozent | 37 Prozent | 37 Prozent |
| ... mit Fachkräfteausbilung | 13 Prozent | 9 Prozent | 19 Prozent |
| ... in Führungspositionen | 6 Prozent | 5 Prozent | 7 Prozent |
| Durchschnitt | 11 Prozent | 8 Prozent | 14 Prozent |
Es ist offenkundig noch immer der Fall, dass sobald Kinder im Haushalt sind, Frauen eher unterbeschäftigt sind als Männer. Noch dazu sind Frauen mit geringen beruflichen Qualifikationen besonders gefährdet – je höher sie qualifiziert sind, desto seltener klagen sie über eine Unterbeschäftigung.
Ebenfalls interessant ist, dass gleich viele Minijobber, unabhängig vom Geschlecht, eigentlich mehr arbeiten wollen, als sie es tun. Dafür hat das DIW eine Erklärung: „Für viele Beschäftigte scheint die seit 2024 bei 538 Euro liegende Geringfügigkeitsgrenze eine Hürde für die Ausweitung ihrer Arbeitszeit darzustellen“. Wer über dieser Grenze verdient, muss Steuern und Abgaben zahlen und profitiert von weniger Sozialleistungen, wie Wohngeld oder Bürgergeld. Das scheint ein Problem zu sein, weshalb diese Menschen im Minijob bleiben, obwohl sie mehr arbeiten könnten.
Gleichberechtigung in Familien: Unternehmen müssen flexibler bei Arbeitsstunden sein
Aus Sicht des IAB ist es also nicht ganz richtig, wenn Politiker wie Friedrich Merz oder Christian Lindner eine schlechte Arbeitsmoral in jüngeren Generationen beklagen. „Die jüngere Generation geht nicht davon aus in einem Alleinerzieher-Haushalt zu leben, sondern von einem Modell, bei dem beide Partner arbeiten“, schreiben die Forscher. „Wenn beide Partner auf dem Arbeitsmarkt aktiv sind, bedarf es allerdings anderer Arbeitszeitmodelle. Denn man kann nicht erwarten, dass beide Elternteile Vollzeit arbeiten und die Sorgearbeit in die Randstunden verlegen“.
Im Schnitt würden sich Familienhaushalte eine Gesamtarbeitszeit von 67 Stunden pro Woche wünschen. Noch dazu wünschen sich Beschäftigte „mehr Gestaltungsspielraum bei der Arbeitszeit“, zum Beispiel je nachdem, in welcher Lebensphase sie sich gerade befinden. Eltern von jungen Kindern wollen Zeit mit diesen verbringen – doch sobald die Kinder älter sind, wollen viele Frauen und Männer wieder mehr Zeit in den eigenen Beruf stecken. „Für Arbeitgeber wird es also auf eine individuelle, souveräne und flexible Arbeitszeitgestaltung ankommen, um Mitarbeiter zu halten und zu gewinnen“, so die Empfehlung des IAB.
Das DIW spricht außerdem die Bedeutung der Kinderbetreuung an. Wenn genug Einrichtungen für die Betreuung zur Verfügung stehen, könnte das den Fachkräftemangel etwas lindern, da dann viele Frauen – die ja eigentlich mehr arbeiten wollen – verstärkt in den Arbeitsmarkt treten können.