Inflation in der Türkei
„Armutsgrenze“ mehr als doppelt so hoch wie Mindestlohn - Erdogan hofft auf göttliche Hilfe
Wer eine vierköpfige Familie in der Türkei ernähren will, braucht fast das Dreifache des Mindestlohns. Viele Menschen leben unter der Armutsgrenze.
Ankara - Immer mehr Menschen in der Türkei leiden unter der Last der Wirtschaftskrise. Eine ausgewogene Ernährung oder bezahlbarer Wohnraum bleiben für viele ein Traum. Gerade für Geringverdiener ist die Situation kritisch. Mit einem Monats-Mindestlohn von 15.000 Türkischen Lira (TL; umgerechnet 507 Euro) ist das Ernähren einer vierköpfigen Familie kaum mehr möglich. Das zeigt jetzt auch eine aktuelle Studie der Metallgewerkschaft BISAM.
Türkei: „Hungergrenze“ wird für viele Menschen zum Problem
Die sogenannte „Hungergrenze“ bezeichnet in der Türkei die Mindestausgaben einer vierköpfigen Familie für eine ausgewogene Ernährung. Inzwischen liegt diese Grenze hierfür laut der Autoren bei 11.525 TL. Täglich müsste eine solche Familie rund 385 TL für eine ausgewogene Ernährung ausgeben, was für viele damit zum Luxus wird. Die Folgen für Gesundheit sind nicht abzusehen.
Die sogenannte „Armutsgrenze“ in der Türkei liegt laut den Experten der BISAM inzwischen hingegen bei 39.886 TL. Damit sind die Ausgaben einer vierköpfigen Familie, um zu „leben“. Das bedeutet neben der Ausgaben für Lebensmittel vor allem solche für Miete, Nebenkosten, Kleidung und Transport. Wie sich Familien mit einem Mindestlohn über Wasser halten, kann die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan offenbar nicht sagen: Sie versucht es mit Durchhalteparolen.
Armutsgrenze in der Türkei steigt auf 39.886 Lira - und damit weit über den Mindestlohn
„Inshallah werden wir am 31. März dem schlechten Werdegang Stopp sagen“, sagte Erdogan Anfang August bei einer Fraktionssitzung. Was Erdogan davon abhält, jetzt der Wirtschaftskrise einen Stopp zu gebieten, erklärte er nicht. Auch sein Finanzminister Mehmet Simsek dämpfte die Hoffnungen auf eine Besserung der Situation. Eine Rettung wird es aber anscheinend auch im kommenden Jahr nicht geben. „Ab 2026 werden wir eine positive Entwicklung der Wirtschaft erleben. In drei Jahren werden wir besser dastehen als heute“, zitierte die Zeitung Gazete Pencere den ehemaligen US-Banker.
Auch andere Wirtschaftszahlen lassen Hoffnung auf eine schnellere Besserung verblassen. Laut dem staatlichen Statistikbüro TÜIK lag die Inflation im Juli bei 47,83 Prozent. An diese Zahlen will aber kaum jemand glauben. Das unabhängige Wirtschaftsinstitut „Ena Grup“ berechnet die Inflation mit 122,88 Prozent. Ein US-Dollar kostete mehr als 27 Lira. Ein Jahr zuvor waren es unter 18 TL. Für ein Land, dass vieles aus dem Ausland importieren muss, führt das zusätzlich zu steigenden Preisen.
Erdogan hatte in seinem Wahlkampf immer wieder über gigantische Öl- und Erdgasfunde berichtet. Davon ist keine Rede mehr. Die Realität ist eine andere. Die Preise an den Tankstellen zeigen das Dilemma der Menschen in der Türkei. Lag der Benzinpreis im Januar bei 19,15 TL, erreichte er im August über 36 TL. Damit haben sich die Spritpreise seit Jahresbeginn ungefähr verdoppelt.
Kinder in der Türkei von Armut besonders betroffen
Gerade Kinder aus von Armut betroffenen Familien bekommen unterdessen große Probleme in der Schule. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung zur „Lernarmut“ der Oppositionspartei CHP. 15 Prozent der Kinder seien am Ende der Grundschulzeit kaum in der Lage, einfache Texte zu lesen und verstehen. Fünf Prozent der Kinder im schulfähigen Alter würden gar nicht erst eingeschult.
Hacer Foggo, die Leiterin des CHP-Büros für Armutssolidarität warnte in einem Gespräch auf dem Sender Flash TV vor weitreichenden Folgen, wie etwa einer „Verdummung“ der Gesellschaft: „Einer der Hauptgründe dafür ist unzureichende Ernährung. Das fängt schon im Mutterleib an“. Diese unzureichende oder einseitige Ernährung bei Kindern führe zu Problemen beim Lernen, mahnte Foggo. Viele Kinder müssten mit 12 bis 13 Jahren ihre Schulzeit abbrechen und arbeiten gehen, um ihre Familien zu unterstützen. Die Preise für Mieten und andere Dinge seien stark angestiegen.
Erkan Pehlivan
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