Stress im Wahlkampf
Aiwanger-Flugblatt war schon 2008 Thema bei den Freien Wählern – Parteifreundin sucht Lehrer auf
Hubert Aiwanger hat nach eigenen Angaben kaum noch Erinnerungen an das antisemitische Flugblatt aus seiner Schulzeit. Im Jahr 2008 scheint es ihm deutlich präsenter gewesen zu sein.
München – Das antisemitische Flugblatt aus dem Hause Aiwanger kam für die Öffentlichkeit gewissermaßen aus dem Nichts. Und für die Freien Wähler sowie Koalitionspartner CSU um Ministerpräsident Markus Söder wegen der am 8. Oktober anstehenden Landtagswahl zur Unzeit. Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger erweckt seit der Aufdeckung durch die Süddeutsche Zeitung (SZ) den Eindruck, sich kaum noch an die nachhallenden Vorgänge aus seiner Schulzeit erinnern zu können. Gedächtnislücken können für Politiker eben manchmal ganz praktisch sein.
Aiwanger und das Flugblatt: Parteifreundin Widmann suchte im Jahr 2008 den Lehrer auf
Allerdings lassen weitergehende Recherchen der SZ zumindest den Schluss zu, dass der bayerische Wirtschaftsminister und Vize-Ministerpräsident schon vor Jahren geahnt haben könnte, dass ihm das menschenverachtende Papier aus dem Schulranzen in seiner Karriere auf die Füße fallen könnte. So soll im Jahr 2008, als Aiwanger mit seiner Partei erstmals in den Münchner Landtag einzog, die ebenfalls aus dem niederbayerischen Ergoldsbach stammende Parteifreundin Jutta Widmann bei einem seiner ehemaligen Lehrer vorstellig geworden sein. Offenbar, um in Erfahrung zu bringen, ob ihrem Chef von dieser Seite Ärger drohe.
Bayerns Ministerpräsidenten seit 1945




Dem namentlich nicht genannten Lehrer sei bei jener Kontaktaufnahme demnach klar gewesen, dass die Nachfrage dem Flugblatt gegolten habe. Doch er habe keinen Grund gesehen, die früheren disziplinarischen Maßnahmen zum damaligen Zeitpunkt öffentlich zu machen.
Aiwanger selbst erklärte nun, er sei wegen der bei ihm gefundenen Schriften, die angeblich aus der Feder seines älteren Bruders Helmut stammen, zum Direktor einbestellt worden. Zudem sei ihm mit der Polizei gedroht worden. Und er habe ein Referat über das Dritte Reich halten müssen – eine Strafe, die er „unter Druck“ akzeptiert habe, schreibt die SZ. Ebenso heißt es da, viele fänden diese Strafe rückblickend skandalös mild.
Aiwanger-Affäre: Lehrer denkt seit Demo-Auftritt in Erding anders über seinen Ex-Schüler
Der besagte Lehrer gibt zu, im Jahr des Vorfalls, also 1988, selbst von einer Aiwangerschen „Jugendsünde“ gesprochen zu haben. Der war zum damaligen Zeitpunkt 17 Jahre jung. Doch mit zunehmender Zeit scheint der Lehrer Zweifel bekommen zu haben, ob nicht doch mehr dahinterstecken könnte. Ein Erweckungserlebnis war demnach der Auftritt des zweiten Mannes im Freistaat bei der viel diskutierten Demo in Erding am 10. Juni 2023. Damals stand das kontrovers diskutierte Gebäudeenergiegesetz der Ampel-Koalition im Fokus.
Im Gedächtnis blieb vor allem, wie Aiwanger der Menge entgegenrief, es sei „der Punkt erreicht, wo die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss“. Die Bundesregierung betitelte er als „Berliner Chaoten“. Vor der Bühne wähnte er derweil die „Mitte der Gesellschaft“. Durch diesen Auftritt habe sich für den Lehrer der Blick auf seinen ehemaligen Schüler geändert.
Aiwanger und die Demokratie: Lehrer wendet sich nach Rede an Schuldirektor
Schließlich folgte die jüngste Abi-Feier an Aiwangers früherem Gymnasium – dem Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg. Auf dieser habe der Schuldirektor über Demokratie gesprochen und den Chef der Freien Wähler namentlich als schlechtes Beispiel genannt. In der Folge will der Lehrer den Direktor über die Flugblatt-Affäre informiert haben. Anschließend habe er sich an die SZ gewandt. Und den Stein mitten im Wahlkampf ins Rollen gebracht.
Seither holt Aiwanger, der in diesen Tagen vor einem CSU-Fragenkatalog sitzt, die Vergangenheit ein. Nachdem er sie vor 15 Jahren augenscheinlich bereits ad acta legen wollte. Die damals offenbar zu diesem Zweck entsandte Widmann hüllt sich zum Thema im Schweigen. Ist wohl auch klüger so. Denn alles, was sie dazu beitragen würde, könnte im weiteren Verlauf gegen ihren Chef verwendet werden. (mg)
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