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Ruanda-Urteil zeigt: Asylverfahren in Drittstaaten sind völkerrechtlich schwierig
Keine Asylverfahren in Ruanda – das besagt ein britisches Urteil. Völkerrechtlich ist das Vorgehen nur schwer zu machen, erklärt ein Experte. Ein Interview.
Berlin/London – Der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs kassiert die Ruanda-Pläne der rechtskonservativen Regierung unter Premierminister Rishi Sunak. Es sei ein Urteil, das „ausschließlich“ zeige, dass es „nicht möglich ist“, Asylverfahren nach Ruanda zu verlagern, sagte Matthias Hartwig, Völkerrechtler am Heidelberger Max-Planck-Institut für Völkerrecht im Gespräch mit Merkur.de von IPPEN.MEDIA.
Genau dieser Punkt heizt nun die deutsche Debatte um Asylverfahren in Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union an. Besonders zwischen Union und Grünen bestehen fast gegenteilige Ansichten zum Urteil. Der Versuch einer Einordnung.
Grüne werfen Union „völkerrechtlichen Realitätsverlust“ vor
Zuletzt gab die Ministerpräsidentenkonferenz der Bundesregierung den Auftrag mit, die Abwicklung von Asylverfahren in Drittstaaten außerhalb der EU zu prüfen. Die Forderung kam von den unionsgeführten Bundesländern. Eine Idee, die in Deutschland mit dem ehemaligen Bundesinnenminister Otto Schily verbunden wird. Anfang der 2000er-Jahre forderte er bereits eine EU-Behörde, die auf Basis der Genfer Flüchtlingskonvention in Nordafrika prüfen sollte, wer ein Recht auf Asyl habe.
Und das Urteil heizte am Donnerstag (16. November) die Debatte erneut an: „Asylverfahren in Drittstaaten außerhalb Europas sind möglich, wenn sie der Genfer Flüchtlingskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entsprechen“, sagte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). „Wer Asylverfahren auf diese Art und Weise auslagern möchte, leidet unter völkerrechtlichem Realitätsverlust“, sagte Innen- und Europapolitiker Julian Pahlke (Grüne) unserer Redaktion.
In gewisser Weise haben beide recht. Völkerrechtler Hartwig möchte im IPPEN.MEDIA-Gespräch „nicht ausschließen“, dass Asylverfahren in Drittstaaten grundsätzlich möglich sind. Allerdings müsse die Bundesregierung „im Einzelfall ganz genau prüfen, wo Asylverfahren auf europäischen Niveau“ stattfinden könnten.
Ruanda-Urteil basiert auf dem Völkerrecht
Der Kern des Urteils, sei so Hartwig, der völkerrechtliche Grundsatz des „non-refoulement“, deutsch etwa Nicht-Zurückweisung, aus der Genfer Flüchtlingskonvention. Dieser verbietet es „Flüchtlinge an die Grenzen von Territorien zu bringen, in denen ihnen Folter oder unmenschliche Behandlung droht“.
Diese Gefahr sah das britische Höchstgericht aufgrund der vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) dokumentierten Menschenrechtsverletzungen im ruandischen Asylsystem. Der „non-refoulement“-Grundsatz ist, so Hartwig, nicht nur in der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern auch in der Anti-Folterkonvention der Vereinten Nationen und in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankert.
„Man kann nicht einfach Menschen in irgendein Land zurückschieben“
Besonders die EMRK schränke die Möglichkeiten für Asylverfahren in Drittstaaten stark ein. Zwar sei die Definition von sicheren Drittstaaten in engen Kriterien grundsätzlich möglich, allerdings nur in engen Kriterien. „Man nicht einfach Menschen in irgendein Land zurückschieben, das geht nicht“, stellte der Jurist klar. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sei hier bereits „sehr verästelt“ und sei klar darin, dass jeder Mensch einen Anspruch auf ein „rechtsstaatliches Asylverfahren“ habe.
Genauso müsse gesichert sein, dass die menschenwürdige Behandlung nach einem – auch einem negativ beschiedenen – Asylverfahren gesichert ist. Für die EU-Mitgliedstaaten zusätzlich bedeutsam: Es gibt eine EU-Richtlinie zu Asylverfahren, die Abschiebungen nur in Länder erlaubt, zu denen Betroffene „eine Beziehung“ hätten, erklärte Hartwig.
UNHCR sendet gemischte Signale
Eine immer wieder debattierte Idee, wäre das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR Asylverfahren in Drittstaaten abwickeln zu lassen. In den britischen Plänen hätte Ruanda die Verfahren abgewickelt. Das Genfer Büro der Organisation lehnte die „Auslagerung von Schutzverpflichtungen“ in einem Papier vom April 2023 jedoch klar ab.
Sollte die „primäre Verantwortung“ für die Asylverfahren weiter bei Deutschland bleiben, zeigte sich die deutsche UNHCR-Vertreterin Katharina Lumpp gegenüber der ARD offener für die Idee. Allerdings unter der Prämisse, dass Deutschland die Asylberechtigten dann auch aufnimmt. Das wäre dann, so Völkerrechtler Hartwig, ein klassisches „Resettlement“-Abkommen.
UNHCR-Verfahren könnten Kontrollverlust für EU bedeuten
„Resettlement-Programme hat es in der Vergangenheit schon gegeben; dabei schlägt der UNHCR Personen, die in Erstzufluchtsstaaten leben, für eine Umsiedlung in einen Drittstaat vor; der Drittstaat muss der Aufnahme zustimmen“, sagt Hartwig. Bei diesem Verfahren sieht er mehrere Probleme: Es müsse „sichergestellt sein“, dass die europäischen Staaten auch „dauerhaft bereit sind“ Menschen aufzunehmen. Dies ist bislang nicht gewährleistet.
Zudem ist das Verfahren bislang aufwendig und erfasst im Vergleich zum Bedarf nur sehr wenige Personen. Ob die Resettlement-Programme angesichts von Flüchtlingsströmen aufgrund von Kriegen und Klimawandel eine adäquate Lösung bieten, erscheint Hartwig zweifelhaft.
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„Schwieriges Fahrwasser“ für die Bundesregierung
Diese völker- und europarechtlichen Normen müssten auch „einfache Gerichte in Deutschland“ anwenden. Abweichungen von völkerrechtlichen Verträgen in der Auslegung durch internationale Gerichte müssten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „gut begründet“ werden. „Schiebt ein Gericht das großzügig beiseite, kommt das einem Verfassungsverstoß gleich“.
Zu guter Letzt bleibt auch noch das deutsche Grundgesetz, an dem Asylverfahren in Drittstaaten scheitern könnten. Auf IPPEN.MEDIA-Nachfrage, ob die Bundesregierung einem Plan nach britischen Vorbild im EU-Rat überhaupt zustimmen dürfe ohne verfassungsbrüchig zu werden, antwortete Hartwig: „Das ist ganz schwieriges Fahrwasser“.
Grundsätzlich stehe EU-Recht über nationalem Recht. „Das gilt auch für Verfassungen“, sagte Hartwig. Allerdings gebe es Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und anderer europäischer Verfassungsgerichte, die besage, dass EU-Recht die „Verfassungsidentität“, der Mitgliedstaaten nicht „beeinträchtigen“ dürfe.
Diese sei in Deutschland klar durch die in Artikel 1 des Grundgesetzes verankerte und durch die sogenannte „Ewigkeitsklausel“ geschützte Menschenwürde definiert. Daher müsste eine EU-Lösung zu Asylverfahren in Drittstaaten nicht nur vor europäischen Gerichten halten, sondern auch vor dem Bundesverfassungsgericht. (kb)
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