Aufrüstung in Ostasien
„Zeitenwende“ wegen China: Wie sich Japan langsam vom Pazifismus verabschiedet
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab sich Japan eine pazifistische Verfassung. Dennoch rüstet das Land seit Jahren auf. Das liegt an China – und einem weiteren Nachbarn.
Robert De Niro war da, auch Jeff Bezos und Tim Cook sind gekommen – und Paul Simon griff sogar zur Gitarre, um „Graceland“ anzustimmen. Serviert wurden Lachs mit Avocado und Grapefruit sowie Rindersteak und Pistazienkuchen mit Kirscheis. Als Joe Biden Mitte April Japans Premier Fumio Kishida zu einem seltenen Staatsdinner im Weißen Haus empfing, fuhr der amerikanische Präsident die höchsten diplomatischen Ehren auf, die sein Land zu bieten hat. Zuletzt war vor fast zehn Jahren ein japanischer Premierminister derart pompös in Washington begrüßt worden.
Die Botschaft, die Biden mit der Staatssause aussendete, war deutlich: Japan, ohnehin seit Jahrzehnten einer der engsten Verbündeten, ist für Washington heute wichtiger denn je. „Die USA und Japan bilden eine der stärksten Sicherheitsallianzen der Welt“, sagt die Analystin Aya Adachi, die sich mit der japanischen Außen- und Sicherheitspolitik beschäftigt. Damit das so bleibt, unterzeichneten Biden und Kishida in Washington rund 70 Abkommen zur Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen, Biden sprach vom „bedeutendste Upgrade unseres Bündnisses seit seiner Gründung“.
Japan rüstet auf – und will sein Militärbudget noch verdoppeln
Gleichzeitig rüstet Japan massiv auf, sehr zur Freude der Amerikaner. Ende 2022 gab Fumio Kishida das Ziel aus, den japanischen Verteidigungshaushalt auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu verdoppeln. Der Inselstaat hätte dann – hinter den USA und China – das drittgrößte Militärbudget weltweit; aktuell liegt Japan mit Verteidigungsausgaben von 50 Milliarden US-Dollar im Jahr 2023 auf Rang zehn.
Ausgerechnet Japan. Ein Land, für das der Zweite Weltkrieg mit der totalen Niederlage endete, das Atombombenabwürfe auf zwei seiner Städte erleben musste und furchtbarste Kriegsverbrechen in vielen Teilen Asiens begangen hat. Japan hatte sich nach 1945 eine pazifistische Verfassung gegeben. „Das japanische Volk verzichtet für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt“, heißt es dort in Artikel 9. Zudem versichert Japan, „keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder sonstige Kriegsmittel zu unterhalten“.
Ganz schutzlos ist das Land allerdings nicht. Seine 1954 gegründeten Selbstverteidigungsstreitkräfte gelten heute als eines der schlagkräftigsten Heere der Welt. An Kampfhandlungen waren die japanischen Soldatinnen und Soldaten allerdings noch nie beteiligt, offiziell dienen sie einzig der Landesverteidigung.
„Japan ist Deutschland einige Schritte voraus“
„Die entscheidende Frage ist, wie man Verteidigung definiert“, sagt Adachi. Die japanische Regierung tut das seit einigen Jahren sehr großzügig. Vor zehn Jahren erlaubte Japan seinem Militär erstmals, engen Verbündeten beizustehen, wenn eine äußere Bedrohung die Existenz des Landes gefährdet. Der damalige Premierminister Shinzo Abe nannte das einen „proaktiven Pazifismus“. 2018 ließ Abe zudem die japanischen Verteidigungsrichtlinien ändern und erstmals Waffensysteme anschaffen, die sich auch für Angriffe nutzen lassen. Eine neue Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2022 sieht vor, dass ein Gegenangriff künftig auch präventiv gestartet werden kann, wenn es Anzeichen einer unmittelbar bevorstehenden Attacke gibt. Was das konkret bedeutet, ist freilich Auslegungssache.
Analystin Adachi spricht – in Anlehnung an Olaf Scholz‘ berühmte Rede drei Tage nach Russlands Angriff auf die Ukraine – von einer „japanischen Zeitenwende“, die, anders als die deutsche, aber nicht plötzlich gekommen sei. „Sie hat sich über die letzten zehn Jahre Stück für Stück entwickelt. Japan ist Deutschland diesbezüglich einige Schritte voraus.“ Lange Zeit war es vor allem Nordkorea, das als Bedrohung wahrgenommen wurde. Die letzte japanische Sicherheitsstrategie von 2013 identifizierte die hochgerüstete Kim-Diktatur als Hauptrisiko, China kam nur am Rande vor. Das ist heute anders, auch wenn Nordkorea weiter Sorgen bereitet. „Der Fokus hat sich verändert, jetzt steht China im Zentrum“, sagt Adachi.
Japans Premier warnt: „Was heute die Ukraine ist, kann morgen Ostasien sein“
Premierminister Kishida sprach 2022 vom „schwierigsten und komplexesten Sicherheitsumfeld seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“ und einem „Wendepunkt der Geschichte“. In Washington warnte er nun: „Was heute die Ukraine ist, kann morgen Ostasien sein.“ Vor allem die Angst, dass Japan in einen Konflikt um Taiwan hineingezogen wird, ist groß.
Der Inselstaat, den China als Teil des eigenen Staatsgebiets betrachtet und sich notfalls mit Gewalt einverleiben will, liegt in unmittelbarer Nähe zu Okinawa, Japans tropischem Südwesten. Auf der Inselgruppe sind Zehntausende US-Soldaten stationiert, die bei einem chinesischen Angriff auf Taiwan wohl in den Konflikt eingreifen würden – Okinawa könnte so zu einem Ziel für Angriffe von Chinas Volksbefreiungsarmee werden. Für Pazifismus ist da aus Sicht der Regierung nur wenig Platz.
China und Taiwan: Darum geht es in dem Konflikt




Adachi weist noch auf einen anderen Aspekt hin, um Japans Aufrüstungsturbo zu erklären: „Es gibt die Sorge, auch mit Blick auf eine mögliche zweite Trump-Präsidentschaft, dass man sich nicht immer auf die USA verlassen kann.“ Für Trump, den Geschäftsmann, sind die in Japan stationierten US-Soldaten vor allem ein großer Kostenfaktor. 2019 soll der damalige US-Präsident die Japaner aufgefordert haben, die jährliche Summe, die Tokio für die US-Präsenz im Land ausgibt, auf acht Milliarden US-Dollar zu vervierfachen. Auch dürfte man in Tokio genau hingehört haben, als Trump kürzlich die Bündnisverpflichtung der USA den anderen Nato-Staaten gegenüber infrage gestellt hat.
Japan und Südkorea nähern sich an – Trotz historischem Ballast
Japan setzt deswegen verstärkt auf Allianzen mit anderen Staaten. Unter Kishida haben sich Japan und Südkorea in nie dagewesenem Tempo angenähert, obwohl die Beziehungen zwischen den beiden Ländern historisch stark belastet sind: Korea war bis 1945 japanische Kolonie, über die Entschädigung von Zwangsarbeitern und -prostituierten wird noch heute heftig gestritten. Auch gibt es Überlegungen, ein Verbindungsbüro der Nato in Tokio einzurichten, zudem will Japan Teil des Aukus-Bündnisses werden, zu dem neben den USA auch Großbritannien und Australien gehören. „Ein elementarer Unterschied zu Europa ist, dass es in Asien keine multilaterale Sicherheitsordnung gibt“, sagt Adachi. „Es gibt kein asiatisches Äquivalent zur Nato.“
Fraglich ist, wie kampfbereit Japan wirklich ist. Seit den 1990er-Jahren ist das Land zwar an Peacekeeping-Missionen der UN beteiligt, doch die japanischen Soldaten dürfen nicht schießen, was sie bisweilen sogar zu einem Sicherheitsrisiko für ihre Kameraden macht. Außerdem hat Japan eine der niedrigsten Geburtenraten der Welt, dem Militär geht der Nachwuchs aus. Frauen, die derzeit rund neun Prozent der japanischen Streitkräfte stellen, sollen die Lücke schließen. Weil es im japanischen Militär aber immer wieder zu Belästigungsfällen kommt, gilt eine Karriere als Soldatin als wenig attraktiv. Auch machen hohe Staatsschulden und ein schwacher Yen die Aufrüstung schwierig.
Japans Bevölkerung steht hinter der militärischen „Zeitenwende“
Vor allem China betrachtet Japans Abkehr vom selbstauferlegten Pazifismus mit Argwohn. Das Land hat im Zweiten Weltkrieg wie kein anderes unter dem japanischen Militarismus gelitten, Japans Kriegsverbrechen fielen viele Millionen Chinesen zum Opfer. Japan müsse sich seiner „Geschichte der Aggression stellen“ und „einen klaren Bruch mit dem Militarismus herbeiführen“, forderte unlängst ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums.
Japans Bevölkerung steht hingegen zu großen Teilen hinter der „Zeitenwende“ ihrer Regierung. Einer im Frühjahr durchgeführten Umfrage der regierungsnahen Zeitung Yomiuri Shimbun zufolge befürworten 71 Prozent der Befragten, dass Japan seine Verteidigungsfähigkeiten ausbaut. 84 Prozent glauben zudem, dass die nationale Sicherheit bedroht sei – vor allem durch China, aber auch durch Russland und Nordkorea. „In den letzten Jahrzehnten hat sich das Sicherheitsumfeld so drastisch verändert, dass die Menschen akzeptieren, dass ein robustes Grundniveau an Verteidigungsoptionen notwendig ist“, sagt Aya Adachi. „Man hat erkannt, dass Maßnahmen ergriffen werden müssen.“