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Abgeordnete uneins

Ukraine-Krieg, Trump und Migration – EU könnte dennoch einen Hebel gegen Erdogan haben

Erdogan lässt einen Konkurrenten verhaften und Protestierende drangsalieren. Ist die EU angesichts der Weltlage machtlos? Ein Grüner fordert Umdenken.

Straßburg/München – Der türkische Dauerpräsident Recep Tayyip Erdogan scheint seinen ärgsten Konkurrenten Ekrem Imamoglu per Festnahme aus dem Weg geräumt zu haben – und Europa fällt bislang wenig dazu ein. Denn Russland verbreitet Sorge, die USA wenden sich von Europa ab. Und Erdogan ist als Nato-Partner, Rüstungsproduzent und Unterstützer im Ukraine-Krieg mehr denn je gefragt. Als Prellbock gegen Migrantinnen und Migranten ohnehin. Sind Brüssel angesichts von Repression gegen Opposition und Protestierende in der Türkei vollends die Hände gebunden?

Erik Marquardt, Migrationspolitiker und Chef der deutschen Delegation der Grünen im Europaparlament, bezweifelt das. Die „stille Diplomatie“ mit Erdogan sei „offensichtlich gescheitert“, erklärte er in einer Presserunde des Parlaments: Bislang sei die Lage immer schlimmer geworden. Marquardt sieht aber dennoch konkrete Hebel – und zweifelt zudem daran, dass Erdogans bekannte Drohungen, die Schleusen für eine große Zahl an syrischen Geflüchteten zu öffnen, überhaupt noch eine reale Basis haben.

Erdogans Türkei: EU-Diplomatie bislang „gescheitert“ – Grüner fordert „anderen Hebel“

Eigentlich gebe es „große Einigkeit“ im EU-Parlament bei der Verurteilung der Vorgänge in der Türkei, sagte Marquardt. „Vermutlich ist es kein Zufall, dass Erdogan genau jetzt den nächsten Schritt zur Autokratie geht“, erklärte er: Europa sei zumindest „gefühlt“ auf die Türkei als zweitgrößte Nato-Armee angewiesen, „mit Trump hat man jemanden, der sämtliche autokratische Entwicklungen bejubeln wird“ – unterdessen werde auf der Plattform X von Trumps (möglicherweise Noch-)Partner Elon Musk die Reichweite türkischer Oppositionsaccounts eingeschränkt.

Die Polizei handelt ganz in Recep Tayyip Erdogans Sinne – was kann die EU tun? (Montage)

Der Grüne forderte „mal einen anderen Hebel“ im Umgang mit Erdogans Türkei. Bislang handle die EU nach der Maßgabe, „wir halten die Klappe, wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht und wir geben Geld – und dann machst du bitte, was wir wollen“. Marquardt nannte mehrere andere Ansatzpunkte:

So sei die Türkei wirtschaftlich in einer schwierigen Lage und „in gewisser Weise auf die EU angewiesen“. Interessiert sei das Land etwa auch an Rüstungsaufträgen. Die EU solle diese nur schließen, wenn Anforderungen an die demokratische Lage erfüllt seien, betonte Marquardt. Auch finanzielle Hilfen der EU für die Türkei – formal immer noch Beitrittskandidat – solle man nicht länger als „Blankoscheck an die Regierung schicken“, gerade angesichts von allgemeinen Kürzungen bei der Entwicklungshilfe. Auf Nachfrage zeigte sich Marquardt aber auch offen für Visumfreiheit als Verhandlungsmasse zwischen EU und Türkei.

Erdogan nach Imamoglu-Festnahme unter Druck setzen – Angst vor Migration aus Türkei „überschätzt“

Das hätte mehrere Vorteile, meinte der Grüne: Eine unkomplizierte Einreise sei ein „Freiheitsgewinn, den man den Menschen nicht so leicht nehmen kann“ – man könne „immer relativ effektiv damit drohen, diese Visumfreiheit auszusetzen“. Üblich sei es auch, derartige Partnerschaften etwa mit Menschenrechtsdialogen zu begleiten; laut Marquardt ein „relativ effektives“ Mittel.

Ein weiterer positiver Effekt aus Marquardts Sicht: Politisch Verfolgte aus Erdogans Türkei könnten mit einer neuen Visumfreiheit sicher in die EU ausreisen. Er rügte in diesem Zusammenhang „Doppelmoral“. Einerseits gebe es Solidaritätsbekundungen mit Opfern von Repression. Andererseits lasse man im Zweifelsfalls Flüchtende aus der Türkei Opfer von Pushbacks werden. Die Verfolgten nach Protesten gegen autoritäre Regimes seien „oft diejenigen, die dann an der Grenze nochmal von uns verprügelt werden“.

Auf dem Weg nach Europa: Die Aufnahmekandidaten der EU

EU Parlament Straßburg
Jeder europäische Staat hat laut Artikel 49 des EU-Vertrags das Recht, einen Antrag auf Mitgliedschaft zu stellen. Wichtig dabei: „Europäisch“ wird politisch-kulturell verstanden und schließt die Mitglieder des Europarats mit ein. Das betrifft zum Beispiel die Republik Zypern. Eine wichtige Rolle spielt im Beitrittsverfahren das EU-Parlament in Straßburg (im Bild). Verschiedene Delegationen verfolgen die Fortschritte in den Beitrittsländern und weisen auf mögliche Probleme hin. Zudem müssen die Abgeordneten dem EU-Beitritt eines Landes im Parlament zustimmen. Derzeit gibt es neun Beitrittskandidaten und einen Bewerberstaat. © PantherMedia
Edi Rama Albanian EU
Albanien reichte 2009 den formellen EU-Mitgliedschaftsantrag ein – vier Jahre, bevor Edi Rama (im Bild) das Amt des Ministerpräsidenten übernahm. Es dauerte aber noch eine lange Zeit, bis die Verhandlungen beginnen konnten. Grund war ein Einspruch der Niederlande, die sich zusätzlich zu den EU-Kriterien auch die Sicherstellung der Funktion des Verfassungsgerichts und die Umsetzung eines Mediengesetzes wünschte. Im Juli 2022 konnte die Blockade beendet werden und die EU startete die Beitrittsverhandlungen. © John Thys/afp
Bosnien und Herzegowina EU
Auch Bosnien und Herzegowina drängt in die EU. Gut erkennen konnte man das zum Beispiel am Europatag 2021, als die Vijećnica in der Hauptstadt Sarajevo mit den Farben der Flaggen der Europäischen Union und Bosnien und Herzegowinas beleuchtet war. EU-Botschafter Johann Sattler nutzte sofort die Gelegenheit, um das alte Rathaus zu fotografieren. Vor den geplanten Beitrittsverhandlungen muss das Balkanland noch einige Reformen umsetzen. Dabei geht es unter anderem um Rechtsstaatlichkeit und den Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen.  © Elvis Barukcic/afp
Georgien EU
Zum Kreis der EU-Beitrittskandidaten gehört auch das an Russland grenzende Georgien. Das Land, in dem rund 3,7 Millionen Menschen leben, hatte kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs die Aufnahme in die EU beantragt. Auf schnelle Fortschritte im Beitrittsprozess kann Georgien allerdings nicht hoffen. Dabei spielt auch ein ungelöster Territorialkonflikt mit Russland eine Rolle. Nach einem Krieg 2008 erkannte Moskau die abtrünnigen georgischen Gebiete Südossetien (im Bild) und Abchasien als unabhängige Staaten an und stationierte Tausende Soldaten in der Region. © Dimitry Kostyukov/afp
Moldau EU
Seit Juni 2022 gehört auch Moldau offiziell zu den EU-Beitrittskandidaten. Das Land, das an Rumänien und die Ukraine grenzt, reichte kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs das Beitrittsgesuch ein. Am 21. Mai 2023 demonstrierten 80.000 Menschen in der Hauptstadt Chișinău für einen Beitritt Moldaus in die Europäische Union. Die damalige Innenministerin Ana Revenco (Mitte) mischte sich damals ebenfalls unters Volk. © Elena Covalenco/afp
Montenegro EU
Das am kleine Balkanland Montenegro will beim EU-Beitritt zügig vorankommen. Direkt nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten Ende Oktober 2023 verkündete Milojko Spajic (im Bild), dass er den Beitritt Montenegros zur EU vorantreiben und die Justiz im Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen stärken wolle. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (rechts) hörte es damals sicher gerne. Montenegro verhandelt seit 2012 über einen Beitritt, hatte sich aber vor der Wahl nicht mehr ausgiebig um Reformen bemüht.  © Savo Prelevic/afp
Scholz Westbalkan-Gipfel Nordmazedonien EU
Nordmazedonien kämpft schon seit langer Zeit für den Beitritt in die EU. Leicht ist das nicht. So hat das kleine Land in Südosteuropa aufgrund eines Streits mit Griechenland sogar schon eine Namensänderung hinter sich. Seit 2019 firmiert der Binnenstaat amtlich unter dem Namen Republik Nordmazedonien. Auch Bulgarien blockierte lange den Beginn von Verhandlungen. Bei einem Gipfeltreffen im Oktober 2023 drängte Kanzler Olaf Scholz dann aber auf eine möglichst schnelle Aufnahme der Balkanstaaten in die EU. Nordmazedoniens Ministerpräsident Dimitar Kovacevski (rechts) war sichtlich erfreut. © Michael Kappeler/dpa
Serbien EU
Auch Serbien strebt in die EU. Wann es zu einem Beitritt kommt, scheint derzeit aber völlig offen. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine hat sich die serbische Regierung geweigert, Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Damit ist Serbien der einzige Staat in Europa, der keine Sanktionen verhängt hat. Offen bleibt, welche Auswirkungen das auf die seit 2014 laufenden Verhandlungen über einen EU-Beitritt Serbiens hat. Die politische Führung in Belgrad, die seit 2012 von Präsident Aleksandar Vučić (im Bild) dominiert wird, zeigt zudem wenig Willen zu Reformen. Demokratie und Medienpluralismus höhlt sie zunehmend aus. © Andrej Isakovic/afp
Türkei EU
Die Türkei ist bereits seit 1999 Beitrittskandidat. Die Verhandlungen selbst haben im Oktober 2005 begonnen. Inzwischen hat die EU-Kommission vorgeschlagen, die Beziehungen wieder auszubauen, sofern sich die Regierung in Ankara unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan (im Bild) in einigen Punkten bewegt. Zuvor waren Projekte wie die geplante Modernisierung der Zollunion und eine Visaliberalisierung wegen Rückschritten bei Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Meinungsfreiheit in der Türkei auf Eis gelegt worden. Ein EU-Beitritt scheint aktuell weiter entfernt denn je. © Adem Altan/afp
Ukraine EU
Im Dezember 2023 wurde der Beginn von Verhandlungen mit der Ukraine grundsätzlich beschlossen. Allerdings muss die Ukraine sämtliche Reformauflagen erfüllen. So waren nach dem letzten Kommissionsbericht manche Reformen zur Korruptionsbekämpfung, zum Minderheitenschutz und zum Einfluss von Oligarchen im Land nicht vollständig umgesetzt. Ohnehin gilt es als ausgeschlossen, dass die Ukraine vor dem Ende des Ukraine-Kriegs EU-Mitglied wird. Denn dann könnte Kiew laut EU-Vertrag militärischen Beistand einfordern – und die EU wäre offiziell Kriegspartei. © Roman Pilipey/afp
Kosovo EU
Kosovo hat einen Mitgliedsantrag eingereicht, jedoch noch nicht den offiziellen Status eines Beitrittskandidaten erhalten. Das Land hat 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt. Die Freude darüber war damals bei den Menschen riesengroß. Das Bild macht auch deutlich, dass vor allem Menschen albanischer Herkunft im Kosovo beheimatet sind. Die Flagge Albaniens (links) ist ebenso zu sehen wie die des neuen Landes (hinten). Mehr als 100 Länder, darunter auch Deutschland, erkennen den neuen Staat an. Russland, China, Serbien und einige EU-Staaten tun dies aber nicht. Ohne die Anerkennung durch alle EU-Länder ist eine Aufnahme von Beitrittsverhandlungen aber nicht möglich.  © Dimitar Dilkoff/afp

Eine Absage erteilte Marquart der „Angst, dass Erdogan seine Möglichkeiten nutzt, mehr Geflüchtete nach Europa zu schicken“. Es werde „überschätzt, wie viele Menschen aus Syrien in der Türkei wirklich auf gepackten Koffern sitzen und in die EU kommen wollen“, meinte der Grünen-Politiker. Viele hätten sich mittlerweile eingerichtet. Und – ungeachtet von Rassismus und Mängeln in der Integrationspolitik im Land – auch türkische Wirtschaftskammern warnten davor, Syrerinnen und Syrer im großen Stile außer Landes zu bringen.

Die Linke-Europaabgeordnete Özlem Demirel bewertete die Lage in der Türkei zwar ähnlich, kam aber zu anderen Schlüssen. Die Türkei stehe am Scheideweg zwischen Autokratie oder Ende des Erdogan-Regimes, sagte sie. Der Wunsch, die Türkei in eine „Koalition der Willigen“ für die Ukraine einzubinden, dürfe für Erdogan nicht zum Freifahrtschein für Repressionen mutieren. Demirel sprach sich aber strikt gegen hochrangige Gespräche mit Erdogans Regierung aus. Und es sei auch der falsche Zeitpunkt für Gespräche über Visumfreiheit: Die Türkei sei im „Ausnahmezustand“. (fn)

Rubriklistenbild: © Emrah Gurel/Khalil Hamra/picture alliance/dpa/AP/fn

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