„Extrem dramatisch“
Nach Luftangriffen aus der Türkei: Expertin warnt vor humanitärer Katastrophe
Erneut haben die Angriffe der Türkei auf Nordostsyrien zugenommen. Ankara sieht darin einen Anti-Terrorkampf. Vor allem zivile Einrichtungen werden bombardiert.
Rakka – Seit Tagen haben die türkischen Angriffe auf Nordostsyrien (Kurdisch: Rojava) wieder zugenommen. Die Türkei begründet ihre Bombardierungen mit der Bekämpfung der PKK. Getroffen werden aber vor allem zivile Einrichtungen, mit fatalen Folgen für die Menschen in der Region. Die Selbstverwaltung von Nordostsyrien schlägt Alarm.
„In den vergangenen Wochen haben wir eine Eskalation militärischer Angriffe in Nord- und Ostsyrien erlebt, die eine ernsthafte Bedrohung für das Leben und die Sicherheit der Zivilbevölkerung darstellen. Diese Angriffe haben nicht nur unschuldige Menschenleben gefordert, sondern auch kritische Infrastrukturen wie Schulen, Krankenhäuser und Wohngebiete schwer beschädigt“, sagt der Vertreter der Selbstverwaltung Vertreter der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien in Deutschland, Khaled Davrisch, im Gespräch mit unserer Redaktion.
„Türkisches Militär zerstört systematisch zivile Infrastruktur“
Auch Hilfsorganisationen wie die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ (GfbV) sind angesichts der türkischen Angriffe empört. „Seit dem 13. Januar bis heute werden kontinuierlich Ziele in der Region angegriffen. Bei dem jüngsten türkischen Angriff flog das NATO-Mitglied Türkei mehr als 53 Luftangriffe, vor allem mit Kampfdrohnen, und Hunderte von Granatangriffen vom Boden aus. Das türkische Militär zerstört systematisch die Infrastruktur, lebenswichtige Einrichtungen und öffentliches Eigentum der ohnehin verarmten Bevölkerung in dem Bürgerkriegsland“, erzählt der Nahostreferent der GfbV, Dr. Kamal Sido, im Gespräch mit Fr.de von IPPEN.MEDIA.
„Die jüngsten Angriffe führten zu einem totalen Stromausfall in neun Städten: Darbasiyah, Amuda, Tirbesbeyeh, Dirk, Girke Lake, Cil Agha, Tal Karjar, Tal Hamis und Qamischli. Außerdem waren 2.232 Dörfer von Stromausfällen betroffen. Mindestens 15 Kraftwerke oder Transformatoren wurden von der Türkei angegriffen“, so Sido.
Türkische Angriffe gefährden Hilfsprojekte
Die Hilfsorganisation medico ist mit seinen Partnern vor Ort in Kontakt. Die Arbeit in diversen medico-Projekten wird durch die türkischen Angriffe extrem erschwert. Das bestätigt uns auch Anita Starosa, Referentin für Syrien, Türkei und Irak bei der Hilfsorganisation bei medico im Gespräch mit unserer Redaktion
„Die Situation der Bevölkerung in Nordostsyrien ist nach den erneuten türkischen Angriffen extrem dramatisch. Es wurden erneut zivile Einrichtungen angegriffen, unter anderem eine Mühle die täglich 50 Tonnen Mehl produziert für die Brotproduktion. Es wurden diverse Elektrizitätswerke zerstört. Nach den Angriffen waren 2 Millionen Menschen ohne Wasser und Strom. Viele Menschen trauen sich nicht mehr auf die Straße“, so Starosta. Die Menschenrechtsexpertin warnt daher vor einer humanitären Katastrophe.
Internationale Staatengemeinschaft schweigt zu möglichen Kriegsverbrechen
Vor allem aber herrscht Verärgerung darüber, dass die internationale Staatengemeinschaft tatenlos zuschaut. „Unter den Augen der internationalen Gemeinschaft, insbesondere Russlands und der USA, die mit Truppen vor Ort sind und den Luftraum über Syrien kontrollieren, lässt die türkische Regierung weiterhin systematisch Infrastruktur und lebenswichtige Einrichtungen in den von Kurden und anderen Volksgruppen bewohnten Gebieten im Norden Syriens zerstören. Das sind Kriegsverbrechen“, empört sich Sido.
Die Selbstverwaltung von Nordostsyrien forder daher ein sofortiges Ende der türkischen Angriffe und eine internationale Untersuchung. „Es ist von entscheidender Bedeutung, dass unabhängige Untersuchungen durchgeführt werden, um die Verantwortlichen für diese möglichen Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen“, so Davrisch.
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