Wegweisende Wahlen
„Ein ganzes Land machte große Augen“: TikTok-Rechtsradikaler erschreckt Rumänien – was dahinter steckt
Plötzlich feiert sogar im EU-Land Rumänien ein prorussischer Rechtsradikaler Erfolge. Wie konnte es dazu kommen? TikTok allein ist nicht der Grund.
Bukarest/München – Rumänien ist EU- und Nato-Land. Und steckt Ende November in einer Art Schockzustand. Am Sonntag (23. November) hat der rechtsradikale und prorussische Calin Georgescu die erste Runde der Präsidentschaftswahl gewonnen. Rumäniens Präsident ist zwar nicht so mächtig wie der Frankreichs. Aber er vertritt das Land im EU-Rat, ist Oberbefehlshaber des Militärs. Eine brisante Entwicklung also.
Hinzu kommt: Die Demoskopen hatten diesen Ausgang nicht mal im Ansatz vorausgesehen. Wie konnte es dazu kommen? Und was würde ein Wahlsieg des Extremisten bedeuten, für Bukarest, für die EU für die Nato?
Raimar Wagner leitet das Projektbüro Rumänien und Moldau der Friedrich-Naumann-Stiftung in Bukarest. Auch als genauer Beobachter der rumänischen Politik hat er keine klare Antwort auf die Frage nach den Hintergründen. Ein Trend sei zwar sichtbar gewesen; zwei Tage vor der Präsidentschaftswahl habe Georgescu aber in Umfragen bei 10 Prozent gelegen: „Das Skurrile und das Fragezeichen an der ganzen Geschichte: Wie kann man so schnell wachsen?“
Rechtsradikales TikTok-Phänomen: Offene Fragen um Präsidentschafts-Anwärter Georgescu
Noch die Nachwahlbefragungen hatten den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Marcel Ciolacu und die liberale Mitte-Rechts-Politikerin Elena Lasconi in Front gesehen. „Ein ganzes Land hat große Augen gemacht, als die Auszählung begann und die Zahlen live aktualisiert wurden“, berichtet Wagner.
„TikTok“-Kandidat Calin Georgescu gegen „Catch all“-Strategie bei Elena Lasconi
Georgescu ist eine durchaus schillernde Gestalt. Mehr als ein Jahrzehnt lang war er im Umweltministerium tätig – und zeitweise gar UN-Berichterstatter. Georgescu inszeniert sich als religiös und verherrlicht rumänische Faschisten der 30er und 40er-Jahre als „Helden“. „Er ist ein Putin-Bewunderer“, sagt Wagner, zugleich habe der Rechtsradikale nicht an Gefahren des Coronavirus geglaubt. Sein Glaube und starkes Immunsystem schützten ihn vor Infektionen, behauptete Georgescu in einem Video. Sein TikTok-Account zählte zuletzt 3,7 Millionen Likes.
Stichwahl-Kontrahentin Elena Lasconi habe im Wahlkampf „zwischen konservativen und liberal-progressiven Parolen“ balanciert, schildert Wagner. Auch sie zeigt sich religiös, ist aber zugleich für eingetragene gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Vor allem aber sei Lasconi eine „überzeugte Europäerin“. Ihre Partei USR gehört wie beispielsweise die FDP zur europäischen ALDE-Parteienfamilie.
Ein Rätsel also. Georgescu hat indes wegen seines Wahlkampfes den Spitznamen „TikTok-Kandidat“ bekommen. Dort hat er offenbar gerade Jungwählerinnen und -wähler angesprochen. Auch die AfD feiert auf der Plattform Erfolge. Das allein kann das Phänomen aber kaum erklären. Der Parteilose selbst behauptet, er habe keinerlei Geld in den Online-Wahlkampf gesteckt. Wagner zweifelt daran: „Experten sagen, es ist unmöglich, ohne Geld in den sozialen Medien so rasanter Follower und Views zu sammeln.“
Nun kursieren viele Thesen. Von Unterstützung durch Trollfarmen etwa sei die Rede. Der rumänische Inlandsgeheimdienst hat nach eigenen Angaben allerdings nichts entdeckt; auch der scheidende Präsident Klaus Johannis berichtete nicht von Auffälligkeiten. Erklärungen gibt es immerhin für das schwache Abschneiden von Sozialdemokraten und Konservativen um Kandidat Nicolae Ciuca, wie Wagner sagt. Ciuca landetet gar bei gerade mal 8,8 Prozent.
„Das sind die beiden Parteien, die sich in den vergangenen 35 Jahren an der Regierung abgewechselt haben“, erklärt Wagner. „Das war eine Protestwahl gegen diese beiden Parteien.“ Es habe wohl den Wunsch nach einem demokratischen Wechsel gegeben – und den Eindruck von Filz und Korruption bei den Platzhirschen. Georgescu habe mit den Themen „Nahrung, Wasser, Energie“ gekontert, mit Elitenschelte – und mit einfacher Wortwahl, die teils logische Argumente mit offenen Lügen verbinde.
Rumänien: 37 Prozent für Rechtsradikale – auch EU und Nato blicken auf Stichwahl
Beunruhigend scheint indes, dass insgesamt 37 Prozent der Wählenden für scharf rechte Kandidatinnen und Kandidaten stimmten. Neben den knapp 23 Prozent für Georgescu sind da auch noch rund 14 Prozent für George Simion von der seit langen Monaten stark im Aufwind befindlichen rechtspopulistischen AUR. Die ebenfalls pro-russische, ultra-rechte Diana Șoșoacă – die bereits im EU-Parlament einen Eklat inszenierte – von der Partei „S.O.S. Romania“ war zwar die Wahlteilnahme untersagt worden, lag in Umfragen aber bis dahin bei 10 Prozent. Ihr Ausschluss stieß übrigens auch bei unabhängigen NGOs auf Protest, wie Wagner sagt.
Die große Frage: Könnte Rumänien nach der Wahl mit der Nato brechen, die EU trollen und auf Kreml-Kurs einschwenken? Bei einem Sieg Lasconis sei das nicht keine Gefahr, meint Wagner – ihre „Union Rettet Rumänien“ ist Partnerpartei der Friedrich-Naumann-Stiftung. Anders sei die Lage bei Georgescu. „Bei ihm müssen wir alles befürchten“, warnt der Experte.
Georgescu fordert unter anderem eine Kürzung der Unterstützung im Ukraine-Krieg. Auch ein Ruf nach einem Nato-Austritt sei nicht ausgeschlossen. Mit der pro-westlichen Lasconi werde die Stichwahl zur „geopolitischen Wahl“, meint Wagner. „Es geht um eine Richtungsentscheidung für EU, für die Nato oder eben für eine eher nationalistische Souveränität, vielleicht sogar einen Pro-Russland-Kurs“. Eigentlich seien die Rumänen mehrheitlich für Nato und EU.
Immerhin: Das Parlament könnte Georgescu einbremsen, der rumänische Präsident hat begrenzte Befugnisse. Es wird am Sonntag (1. Dezember) gewählt. Allerdings könnte die Präsidentschaftswahl auf den Urnengang ausstrahlen. Eine Prognose sei schwierig, meint Wagner. Der Politikwissenschaftler Cristian Pirvulescu sagt allerdings: Georgescus Erfolg könnte „ansteckend“ wirken. Lasconi erwartet bereits einen „existenziellen Kampf“ – in fünf rumänischen Städten gab es am Dienstag Demonstrationen gegen Georgescu. (fn mit Material von AFP)
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