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IPPEN.MEDIA-Interview

SPD-Außenpolitiker Michael Roth: „Es gibt in unserem Land keine Kultur des Verzeihens“

Nach dem Rücktritt von Generalsekretär Kevin Kühnert aus gesundheitlichen Gründen spricht SPD-Politiker Michael Roth über seine Erfahrungen mit Burnout.

Berlin – Für die meisten dürfte es eine sehr überraschende Nachricht gewesen sein: Kevin Kühnert zieht sich weitgehend aus der Politik zurück und gibt sein Amt als SPD-Generalsekretär ab. „Die Energie, die für mein Amt und einen Wahlkampf nötig ist, brauche ich auf absehbare Zeit, um wieder gesund zu werden“, so Kühnert am Montag. Für die SPD ein Verlust, Kühnert gilt als politisches Ausnahmetalent.

Auch Michael Roth hat vor zwei Jahren einmal die Reißleine gezogen. Wegen eines Burnouts zog sich der SPD-Bundestagsabgeordnete und Spitzenpolitiker komplett aus der Politik zurück. Kühnerts Rücktritt wirft nun erneut ein Schlaglicht auf die Frage: Gehen Spitzenpolitikerinnen und -politiker zu sehr an ihre Grenzen? Dasselbe gilt für Ehrenamtler oder Menschen in Pflegeberufen. Darüber und über seine ganz persönlichen Erfahrungen spricht Michael Roth im Interview mit IPPEN.MEDIA.

Michael Roth ist seit 1998 Mitglied des Bundestages. Von 2013 bis 2021 war er Staatsminister für Europa im Außenministerium, seit 2021 ist er Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag. Zur kommenden Bundestagswahl will er nicht mehr antreten.
Kevin Kühnert nimmt sich eine Auszeit, um sich um seine Gesundheit zu kümmern. Sie haben das 2022 auch gemacht. Wann haben Sie gemerkt, dass Sie nicht mehr weitermachen können?
Das war ein langer, schmerzhafter Prozess. Ich neige zu einem protestantisch geprägten Arbeitsethos und es fiel mir schwer, Terminanfragen abzusagen, mal einen Schritt zurückzutreten, zur Ruhe zu kommen. Man macht einfach weiter im Hamsterrad. Irgendwann war der Punkt erreicht, wo es zu viel wurde. Manchmal reicht da der buchstäbliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Was war bei Ihnen dieser Tropfen? 
Die Zeit zwischen den Jahren, die eigentlich eine traditionelle Ruhephase ist, war bei mir damals ein sehr schwieriger Moment. Und in dieser Woche, in der man im wahrsten Sinne des Wortes zur Besinnung kommen kann, habe ich dann gespürt: So geht es nicht mehr weiter. Ich musste den Schalter umlegen und mir Hilfe suchen.
Sie haben eine Therapie gemacht? 
Ja, und das ist ganz wichtig: Viele denken, es reicht, wenn sie ein offenes Gespräch mit Freunden oder der Familie führen. Aber damit überfordern sie ihr Umfeld. Ich weiß, dass es gerade für Partnerinnen und Partner sehr schwer zu akzeptieren ist, erst einmal nicht Teil der Lösung zu sein. Aber man muss den Mut aufbringen, aus dem vertrauten Umfeld herauszutreten und sich professionelle Hilfe zu holen. Über diese Brücke muss man gehen.

Burnout: „Eine solche Erschöpfung ist ein langer Prozess“

Wie ging es Ihnen danach? 
Eine solche Erschöpfung, wie ich sie hatte, zu überwinden, ist ein langer Prozess. Man kann nicht sagen, ich bin jetzt gesund. Oder noch viel schlimmer: Ich bin jetzt der Alte. Man will ja nicht der Alte sein, sondern will jemand sein, der dazugelernt hat. Ich kann heute mit Belastungen und Extremsituationen besser umgehen als früher. Das heißt: Man drückt nicht auf einen Knopf und kommt gesund wieder, sondern man lernt fürs Leben.
Würden Sie sagen, dass der Politikbetrieb ein Umfeld ist, das besonders Burnout-Risiken birgt?
Es gibt eine Reihe von Hochleistungsberufen. Zum Beispiel im Pflegebereich oder Lehrkräfte in einer Brennpunkt-Schule. In der Politik wird erwartet, dass man omnipräsent ist und zu jedem Thema immer etwas zu sagen hat. Man muss sich als Politiker in den Sturm stellen. Denn Politik beruht in einer Demokratie auf Streit. Der wird allerdings auch immer persönlicher geführt.
Inwiefern?
Die eigene Glaubwürdigkeit wird infrage gestellt. Persönliche Diskreditierungen nehmen zu. Die sozialen Medien tragen in erheblichem Maße dazu bei. Man ist permanent auf Sendung. Wir machen als Politiker heutzutage mehr Fehler, vor allem, weil wir einfach viel mehr sagen und verbreiten. Die Reaktionen sind oft nicht sachlich, sondern sehr persönlich, sehr hart. Es gibt eine völlige Enthemmung. Vor allem X ist seit der Übernahme durch Elon Musk immer toxischer geworden. Man kommt kaum mehr hinterher, jede Beleidigung, jede Bedrohung in den sozialen Medien zur Anzeige zu bringen, weil das einfach so viel geworden ist. Das hinterlässt Spuren. Und leider gibt es in unserem Land und in der Politik keine Kultur des Verzeihens und der Nachsicht. 
Früher war das anders?
Das Tempo ist heute ein völlig anderes. Damals konnte ein Bundeskanzler Willy Brandt einfach mal abtauchen, wenn es ihm nicht gut ging. Und Bundeskanzler Kohl hat jeden Sommer einen Monat am Wolfgangsee verbracht. Heute müssen sich Politiker der ersten Reihe rechtfertigen, wenn sie mal eine Woche Auszeit nehmen. Seit Kohls Zeiten haben wir vor allem Menschen an der Spitze, denen man in der Regel kaum anmerkt, dass sie an ihre Belastungsgrenzen gehen. Das ist bei Olaf Scholz ähnlich wie bei Angela Merkel.

„Ich bin ein Zirkuspferd in der Manege und wenn ich dort einen Auftritt habe, dann performe ich“

Als Angela Merkel Zitteranfälle hatte, war das womöglich ein Anzeichen.
Ich habe sie natürlich auch mal müde und erschöpft erlebt, manchmal ist sie im Sitzen sogar einen Moment eingeschlafen. Aber es geht ja hier um das öffentliche Bild. Das sagt man jetzt auch über Kevin Kühnert: „Der sah ja gar nicht krank aus. Der war doch letzte Woche noch bei Markus Lanz in der Talkshow, da hat man gar nichts gemerkt.“ Wir sind trainiert, dass man uns unsere Schwächen nicht anmerkt. Ich habe immer gesagt: Ich bin ein Zirkuspferd in der Manege und wenn ich einen Auftritt habe, dann performe ich auch. 
Müssten Politiker mehr Schwäche zeigen dürfen?
Ja. Man sollte nicht den Eindruck erwecken, Politiker hätten Superkräfte. Wir sind ganz normale Menschen. Nachdem ich meine mentalen Probleme öffentlich gemacht habe, sprachen mich viele Menschen an: Gut, dass es endlich mal jemand sagt. Man erwartet von Politikern, und das gilt auch für viele andere Berufe, sich durchzubeißen. Es gibt ja diesen Spruch: Wem es in der Küche zu heiß ist, der sollte nicht Koch werden. Heute sage ich: Wer sich verbrannt hat, der sollte einfach mal den Herd runterdrehen.
Sie wollen zur nächsten Bundestagswahl nicht mehr antreten. Was ist der Grund? 
Ich habe 27 Jahre Berufspolitik gemacht. In meiner Fraktion ist niemand länger dabei als ich. Ich spüre inzwischen eine gewisse Entfremdung vom Politikbetrieb. Die harten Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre – wir haben ja schließlich um Krieg und Frieden gestritten – sind nicht einfach nur in den Kleidern hängen geblieben. Und ich habe immer gesagt: Ich will nicht als Berufspolitiker in Rente gehen, ich will kein zweiter Schäuble sein. Ich will nochmal etwas Neues wagen. 
Was haben Sie vor?
Ich werde weiter arbeiten. Darauf freue ich mich. Klar ist, dass ich nicht nur Hundehalter, Imker und Bäcker sein will, das wird mich auf Dauer wohl nicht erfüllen. Ich möchte meine Erfahrungen weiterhin teilen und bleibe immer ein politischer Mensch. Eine Sache, die ich jetzt angehe: Ich will ein Buch schreiben. Für mich gibt es aber keinen möglichen Wiedereinstieg in die Politik. Das Kapitel ist für mich beendet. Punkt, aus, Feierabend.

Rubriklistenbild: © Hendrik Schmidt/dpa

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