Scholz und Lindner in Neu-Delhi dabei
G20-Gipfel in Indien belastet durch Konflikte der Großmächte – Xi und Putin nicht dabei
Indien sonnt sich im Rampenlicht der G20. Für Premierminister Modi ist der G20-Gipfel in Neu-Delhi auch ein Test: Kann er die zerstrittenen Großmächte zu einer gemeinsamen Erklärung bewegen?
Neu Delhi/Frankfurt – Erst sagte der russische Präsident Wladimir Putin ab. Dann folgte sein Amtskollege Xi Jinping aus China. Und US-Präsident Joe Biden bestätigte erst diese Woche, dass er zum G20-Gipfel nach Neu-Delhi anreisen wird. Damit wurde die Bedeutung eines der wichtigsten Ereignisse im diplomatischen Kalender noch einmal gerettet – vorerst. Denn für Indiens Premierminister Narendra Modi geht es trotzdem um viel. Denn noch nie waren die G20 so gespalten wie derzeit. Den G7-Staaten des Westens steht eine große Gruppe Schwellenländer – wie Indien selbst, China oder Brasilien – gegenüber, die die Dominanz des Westens in der Welt aufbrechen will. Dieser Konflikt dürfte den Gipfel am Wochenende überschatten.
Die G20-Gruppe bringt die größten Schwellenländer mit den Industriestaaten des Westens zusammen. Entstanden in einer Phase globaler Wirtschafts- und Finanzkrisen, wollen die G20 vor allem die Weltwirtschaft stabilisieren. Eigentlich war die Idee gut, die wichtigsten Entwicklungsländer mit den mächtigen G7-Staaten an einen Tisch zu bringen, um Lösungen im Krisenfall zu finden. Zusammen repräsentieren die G20 heute 85 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung, 75 Prozent des internationalen Handels und zwei Drittel der Weltbevölkerung. Doch nun gehen die Visionen der Beteiligten zunehmend auseinander.
G20: Uneinigkeit bei Ukraine und Klimaschutz
Viele Schwellenländer haben sich zum Beispiel im Ukraine-Krieg nicht den Sanktionen des Westens angeschlossen und verhalten sich mehr oder weniger neutral. Das gilt auch für Indien selbst. Auch stört die wachsende Rivalität zwischen den USA und China. Zum jetzigen Zeitpunkt erscheint es allein schon wegen des Ukraine-Kriegs fast unmöglich, dass sich die versammelten Staats- und Regierungschefs einstimmig auf ein Abschlusskommuniqué einigen werden. Keiner der üblichen G20-Ministerrunden während des Jahres der indischen Präsidentschaft war das gelungen. Sie schlossen mit einem „Ergebnisdokument“, das auch Dissens festhielt, vor allem auf Betreiben Russlands.
Und laut Reuters sind in den Vorgesprächen der vergangenen Tage auch noch neue Streitpunkte beim Klimaschutz aufgetaucht, die das Ringen um die Abschlusserklärung zusätzlich erschweren. Umstritten ist vor allem der Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen Kohle und Öl, den Russland, China und Saudi-Arabien verzögern wollen.
Wie geschickt Modi in diesem schwierigen Umfeld agieren wird, wird sich zeigen. Die Rolle ist neu für ihn. Und der Ausgang des G20-Gipfels daher völlig offen. Kommt eine substanzielle Abschlusserklärung zustande, gehen Indien und die G20 gestärkt aus dem Gipfel hervor. Scheitert ein Kommuniqué erstmals in der G20-Geschichte, verliert das Format womöglich an Relevanz.
Indiens Modi will von G20 profitieren
Modi dürfte in jedem Fall auch aus Eigeninteresse alles reinhauen, um ein respektables Ergebnis zu erzielen. Seit Wochen sonnt er sich auf der Weltbühne, zuletzt mit der erfolgreichen Mondlandung einer indischen Sonde. Der Westen umwirbt ihn, um das weltgrößte demokratische Land enger einzubinden. „Der Wahlkampf in Indien ist längst eröffnet und G20 ist natürlich schon Teil der wohl orchestrierten Modi-Show“, sagt Adrian Haack von der CDU-nahen Kondrad-Adenauer-Stiftung in Neu-Delhi. Indiens G20-Präsidentschaft ist im Land enorm populär. „Rikscha-Fahrer, Friseure, Teeverkäufer und Gärtner reden über G20. Der größte Lieferdienst des Landes gibt zum G20-Gipfel 20 Prozent Rabatt“, erzählt Haack.
Genau in der Euphorie um Modi und G20 mag der Grund liegen, dass Xi Jinping zum ersten Mal überhaupt seine Teilnahme an einem G20-Gipfel abgesagt hat. Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar beschwichtigte am Mittwoch: Die Absage sei nicht ungewöhnlich und habe nichts mit Indien zu tun. Statt Xi reist immerhin Ministerpräsident Li Qiang an, der für Wirtschaft und Finanzen zuständig ist.
G20: Scholz und Lindner reisen nach Neu-Delhi
Doch vor allem im Westen sieht man sie als Zeichen einer Geringschätzung des G20-Formats. Xi wolle sich „augenscheinlich verstärkt alternativen internationalen Foren wie dem Brics-Format zuwenden möchte“, sagt Ulrich Lechte, außenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, zu IPPEN.MEDIA. „Angesichts der Zunahme von Spannungen in Ostasien und im indo-pazifischen Raum“ wäre Xis Anwesenheit schon wünschenswert gewesen, meint Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Franktion. Er verpasse die Gelegenheit, „auf persönlicher Ebene aufeinander zuzugehen und dadurch deeskalierend zu wirken“, so Schmid zu IPPEN.MEDIA. Informelle bilaterale Gespräche am Rande solcher Gipfel sind beinahe ebenso wichtig wie die Plenarsitzungen.
„Die kommunistische Führung ist offensichtlich immer weniger daran interessiert, die bestehende globale (Un-)Ordnung zu erhalten und strebt stattdessen eine alternative China-zentrische Ordnung an“, kritisiert Michael Roth die Absage. „Angesichts dieser Entwicklung wäre ein gemeinsames Abschlusskommique eine ziemliche Überraschung. Denn mit Russland und China sitzen zwei Staaten mit am Tisch, die offensichtlich keinerlei Interesse daran zeigen, dass dieses Gipfeltreffen ein Erfolg wird“, so der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag zu IPPEN.MEDIA.
Aus den Worten spricht Ärger und eine gewisse Enttäuschung. Der G20-Gipfel bleibe trotz der Abwesenheit von Russland und China wichtig, betonte dagegen Bundeskanzler Olaf Scholz Anfang der Woche im Deutschlandfunk. Er reist gemeinsam mit Bundesfinanzminister Christian Lindner nach Neu-Delhi. Direkt vor dem Gipfel trifft er bilateral mit Modi zusammen.
Indien schaut nicht nur auf Abschlusserklärung, sondern hat andere Ziele
Zerstören Krisen und Machtspielchen also die G20? Und der indische Außenpolitik-Experte und Journalist Shashank Mattoo hält die G20 gerade wegen der vielen globalen Krisen – Pandemie, Krieg, hohe Weizen- und Energiepreise – für relevant: „Ein Wort definiert die G20: Krise“, schrieb er auf X (früher Twitter). Für Mattoo ist zudem die Abschlusserklärung nicht der einzige Maßstab für Gipfel-Erfolg. Indien wolle die G20 um die Afrikanische Union (AU) erweitern – schließlich ist auch die EU Mitglied – sowie schnellere Schuldennachlässe für arme Länder und eine Reform der Weltbank erreichen.
Durchbrüche bei diesen Themen „würden Indiens Ruf als Sprachrohr der Entwicklungsländer stärken“, glaubt Mattoo: „Allein die Anwesenheit wichtiger internationaler Persönlichkeiten in Delhi wird ein großer PR-Gewinn sein.“ Und damit ist G20 zumindest für Indien auf jeden Fall ein Erfolg.
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