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„Nase voll von der Gewalt“

Jährlich Dutzende Tote: Schweden-Gangs heuern Kinder für Mordaufträge an

Schießereien sind in manchen schwedischen Orten an der Tagesordnung. Polizisten patrouillieren Tag und Nacht. Experten sehen Politik-Versäumnisse.

Stockholm/Södertälje – Totenstille in Hovsjö. Der Grill-Imbiss an der Straße hat geschlossen, ausgebleichte Fotos am Schaufenster werben für Kebab und Burger. Eine Brücke mit einem hohen Maschendrahtzaun anstelle eines Geländers führt über die Schnellstraße in die Siedlung gegenüber.

Man muss die Augen abschirmen gegen die tief stehende Sonne an diesem eiskalten Frühlingstag, dann erkennt man dort: gedrungene, quaderförmige Bauten mit glatten braunen Fassaden – typische Arbeiterhäuser aus den 1960ern. Aufgeräumt, aber trostlos. Dazwischen auf kahlen Rasenflächen: ein paar Jugendliche in dicken Daunenjacken, die dunklen Kapuzen über die Köpfe gezogen.

Keine Spur von Bullerbü: Wo Kinder in Schweden morden

Södertälje in Schweden
Die Straßenzüge wirken recht aufgeräumt. Auf den allerersten Blick würde man nicht darauf kommen, dass sich Drogen-Gangs in Södertälje südlich der schwedischen Hauptstadt Stockholm regelmäßig Schießereien liefern.  © Peter Sieben
Hovsjö in Södertälje in Schweden
Der Bezirk Hovsjö ist geprägt von Arbeitersiedlungen aus den 1970er Jahren. Unternehmen wie AstraZeneca und Scania stampften die Häuser einst aus dem Boden, um die vielen neuen Arbeiter unterzubringen.  © Peter Sieben
Häuser in Södertälje in Schweden
Heute ist Hovsjö eines von vier sogenannten gefährdeten Gebiete in der 75.000-Einwohner-Stadt.  © Peter Sieben
Södertälje
Viele der einstigen Arbeiter sind längst weggezogen. Heute ist der Ausländeranteil hoch in dem Viertel, die meisten Bewohner stammen aus Syrien und Armenien. Inzwischen haben sich vor allem Menschen angesiedelt, die sich die teuren Wohnungen etwa im 30 Kilometer entfernten Stockholm nicht leisten konnten. Experten sehen Versäumnisse der Politik, die über Jahre eine regelrechte Ghettoisierung zugelassen habe.  © Peter Sieben
Straße in Södertälje in Schweden
Seit einigen Jahren kommt es in den Straßen und Hinterhöfen immer wieder zu extremen Gewalttaten: Verfeindete Drogengangs bekämpfen sich mit Schusswaffen und immer öfter auch mit Sprengstoff. Ein Phänomen, das es auch in anderen Teilen von Schweden, etwa rund um Stockholm oder in Göteborg, gibt.  © Peter Sieben
Schweden, Södertälje südlich von Stockholm
Das Zentrum des Viertels wird immer wieder zum Tatort. © Peter Sieben
Tatort Södertälje
Auf diesem Platz gleich hinter dem „Hovsjö Grill“-Imbiss schoss im Juli 2024 ein 16-Jähriger einem 15-Jährigen ins Gesicht, in den Bauch und in die Beine – der Junge überlebte nur knapp. Die Gangs heuern neuerdings immer mehr Kinder und Jugendliche an und drängen sie zu schweren Straftaten.  © Peter Sieben
Einsatzkräfte der Polizei Patrick Torneus und Jessica Edmann.
Die schwedischen Sicherheitsbehörden setzen auf Repression und Prävention: Einsatzkräfte der Polizei patrouillieren regelmäßig in den gefährdeten Gebieten, zeigen Tag und Nacht Präsenz. Zwei von ihnen sind Patrick Torneus und Jessica Edmann.  © Peter Sieben
Polizei in Schweden
Patrick Torneus und Jessica Edman suchen immer wieder auch den Kontakt zu den Jugendlichen und Kindern im Viertel, sind Bezugspersonen für sie.  © Peter Sieben
Polizei Schweden
Viele Bewohner des Viertels kennen und vertrauen den Polizisten.  © Peter Sieben
Bandenkriminalität in schweden
Täglich sind Polizistinnen und Polizisten in dem Gebiet auf Streife. Schwedische Zeitungen nannten die gefährdeten Zonen einst „No-go-Areas“. Bei der Polizei hört man das nicht gern. Dort spricht man von „priorisierten Gebieten“: Bei der Bevölkerung verfange das Signal, stigmatisiert fühle sich niemand, dafür besonders geschützt.  © Peter Sieben
Sicherheitskameras, Bandenkriminalität in Schweden
An vielen Gebäuden sind Kameras angebracht, die hochauflösende Bilder der Gegend liefern. Die Polizisten können mit ihren Smartphones direkt darauf zugreifen.  © Peter Sieben
Polizisten, Bandenkriminalität Schweden
Denn die verwinkelten Hinterhöfe der Plansiedlung sind nicht gut einsehbar, die Wege nicht mit dem Auto befahrbar: Die Polizisten sind zu Fuß unterwegs.  © Peter Sieben
Polizei schweden
Ausgestattet sind die Polizeikräfte mit Schusswaffen, aber auch Tasern. Die nicht tödlichen Waffen kommen immer wieder zum Einsatz.  © Peter Sieben
Schweden: Die Polizisten Jessica Edman und Patrick Torneus in Södertälje
„Im Idealfall verhindern wir aber Verbrechen, bevor sie passieren“, sagt Jessica Edman. Wenn sie bemerken, dass Jugendliche und Kinder sich in der Nähe der Gangs herumtreiben, bringen sie sie im Streifenwagen direkt nach Hause, wo sie das Gespräch mit den Eltern suchen.  © Peter Sieben
Schweden, Bandenkriminalität, Polizei
Als Vorbild für die Präventionsarbeit der Sicherheitsbehörden gilt das deutsche Projekt „Kurve kriegen“ aus NRW.  © Peter Sieben
Herbert Reul in Schweden
Im März 2025 machte sich NRW-Innenminister Herbert Reul ein Bild von der Situation in Schweden.  © Peter Sieben
Patrick Torneus in Södertälje
Gespräch direkt am Zaun: „Na, habt ihr schon Schule aus?“, fragt Patrick Torneus eine Gruppe Kinder.  © Peter Sieben

Der Stadtteil Hovsjö ist eines von vier sogenannten gefährdeten Gebieten in der 75.000-Einwohnerstadt Södertälje südlich der schwedischen Hauptstadt Stockholm. Beinahe im Wochentakt gibt es hier Schießereien auf offener Straße. Hovsjö steht für ein Problem, das es in ganz Schweden gibt: Extrem gewalttätige Drogen-Banden machen die Randbezirke der Hauptstadt sowie Vorstädte unsicher. Jedes Jahr sterben Dutzende Menschen im Drogenkrieg. Und die Gangs rekrutieren immer jüngere Mitglieder, viele sind noch Kinder.

Kriminelle Banden in Schweden: Täter und Opfer sind oft noch Kinder

„Manche sind elf, zwölf Jahre alt“, sagt Polizist Patrick Torneus. Er und seine Kollegin Jessica Edmann sind heute mit der Patrouille dran, Tag und Nacht zeigt die Polizei in Hovsjö Präsenz. Das Sicherheitsgefühl der Bewohner ist arg angeknackst. Neuerdings gibt es öfter auch Explosionen, die Gangs werfen Handgranaten oder lassen selbstgebastelte Bomben vor den Hauseingängen ihrer Feinde hochgehen. Immer wieder werden dabei auch Unbeteiligte verletzt. Die Waffen kommen auf obskuren Wegen aus Krisengebieten nach Schweden, den Sprengstoff für die Bomben stehlen die Gangs von Baustellen.

Den Banden geht es um Geld, sie dealen im großen Stil mit Cannabis, vor allem aber mit Kokain, das in Schweden, wie auch in anderen Ländern Europas, immer mehr zu einer Volksdroge wird. Kaufen kann man den Stoff, der oft über Umschlagplätze in den Niederlanden nach Skandinavien kommt, in Gegenden wie Hovsjö an vielen Ecken. „Open Drug Scene“ – offene Drogenszene – nennen sie das hier. „Jeder kann vorbeigehen und sich was holen, jeder weiß Bescheid“, sagt Torneus. Der Straßenpreis: 800 schwedische Kronen (knapp 70 Euro) für 0,2 Gramm. Letztlich trügen die Konsumenten, die ein bisschen high werden wollten, mit zur Gewalt bei.

Handel mit Kokain und Cannabis: Drogen-Gangs machen Schwedens Vorstädte unsicher

Die Drecksarbeit, Diebstähle und Mordanschläge, erledigen oft Kinder und Jugendliche für die Banden. Weil sie noch nicht die Strafmündigkeit erreicht haben, die in Schweden bei 15 Jahren liegt. Über soziale Medien, Computerspiel-Chats oder Telegram-Gruppen locken die Gangs die Kinder. Die Banden betreiben in den Chats regelrechtes Love-Bombing, überschütten die Kinder mit Aufmerksamkeit – bis sie anbeißen. Viele der Gang-Mitglieder haben selbst Gewalterfahrungen gemacht, kommen aus zerrütteten Familien. Den Rekruten versprechen sie Geld; mal 5000 Euro, mal 10.000 manchmal noch mehr. „Das Geld bekommen sie dann in der Regel nicht, aber aus den Fängen der Banden kommen sie kaum wieder heraus“, erklärt Jessica Edmann.

Die schwedischen Sicherheitsbehörden setzen auf Repression und Prävention: Einsatzkräfte der Polizei patrouillieren regelmäßig in den gefährdeten Gebieten, zeigen Tag und Nacht Präsenz. Zwei von ihnen sind Patrick Torneus und Jessica Edmann.

Sie und ihr Kollege Torneus sind zu Fuß unterwegs. Die Hinterhöfe sind verwinkelt, schlecht einsehbar, mit Autos kommen sie hier nicht weiter. Unternehmen wie AstraZeneca und Scania stampften die braunen Häuser einst aus dem Boden, um während des schwedischen Wirtschaftsaufschwungs in den 60ern die vielen neuen Arbeiter unterzubringen. Fast alle der einstigen Arbeiter sind längst weggezogen, jetzt ist der Ausländeranteil hoch in dem Viertel, die meisten Bewohner stammen aus Syrien und Armenien. Sie können sich die teuren Wohnungen in anderen Viertel oder in der Hauptstadt nicht leisten. Ein Versäumnis der letzten Regierungen Schwedens, da sind sich Experten einig: Über Jahre haben sie eine regelrechte Ghettoisierung zugelassen.

Kameras, die oben an den Häusern hängen, liefern hochauflösende Bilder, auf die die Polizisten mit ihren Smartphones zugreifen können. „Oft hängen Banden in den Hauseingängen oder in Treppenhäusern ab“, sagt Patrick Torneus. Wenn sie bemerken, dass Jugendliche und Kinder sich in der Nähe der Gangs herumtreiben, bringen sie sie im Streifenwagen direkt nach Hause, wo sie das Gespräch mit den Eltern suchen. „Im Idealfall verhindern wir Verbrechen, bevor sie passieren“, sagt Jessica Edmann.

„Na, schon Schule aus?“, fragt Torneus eine Gruppe Jugendlicher im Vorbeigehen. Die Jungen – vielleicht elf, zwölf Jahre alt, feixen. Sie kennen die beiden Polizisten. „Vertrauen zu den Bewohnern aufzubauen, ist das A und O“, sagt Torneus.

Polizei in Schweden will an die älteren Banden-Mitglieder – „Nase voll von der Gewalt“

Der Platz hinter dem Hovsjö-Grill ist wie leergefegt. Vor ein paar Monaten lag dort der Körper eines 15 Jahre alten Jungen, blutend. Ein 16-Jähriger hatte ihm mit einer Pistole ins Gesicht geschossen, in den Bauch, in die Beine. Sein Opfer überlebte nur knapp. Der Schütze floh zusammen mit einem Komplizen auf einem E-Roller, wurde später gefasst. Zehn Personen waren an der Tat beteiligt, typisch für die Gangkriminalität: Einer besorgte die Waffe, einer den E-Roller, wieder ein anderer stand Schmiere.

Die Taktik der Behörden: Sie wollen vor allem an die älteren Gangmitglieder, um die Strukturen zu zerschlagen. Das zeigt sich auch an den Urteilen. Der 16-jährige Täter etwa musste für drei Jahre in eine geschlossene Jugendeinrichtung. Zwölf Jahre Haft gab es hingegen für einen Mittäter im Alter von Mitte 20, der eine Wohnung angemietet hatte, die als Unterschlupf dienen sollte. Die Leute empfänden das durchaus als gerecht, sagt Södertäljes Polizeichef Kristoffer Olofsson: „Sie haben die Nase voll von der Gewalt. Sie wollen, dass es aufhört.“

Rubriklistenbild: © Peter Sieben

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