„Nase voll von der Gewalt“
Jährlich Dutzende Tote: Schweden-Gangs heuern Kinder für Mordaufträge an
Schießereien sind in manchen schwedischen Orten an der Tagesordnung. Polizisten patrouillieren Tag und Nacht. Experten sehen Politik-Versäumnisse.
Stockholm/Södertälje – Totenstille in Hovsjö. Der Grill-Imbiss an der Straße hat geschlossen, ausgebleichte Fotos am Schaufenster werben für Kebab und Burger. Eine Brücke mit einem hohen Maschendrahtzaun anstelle eines Geländers führt über die Schnellstraße in die Siedlung gegenüber.
Man muss die Augen abschirmen gegen die tief stehende Sonne an diesem eiskalten Frühlingstag, dann erkennt man dort: gedrungene, quaderförmige Bauten mit glatten braunen Fassaden – typische Arbeiterhäuser aus den 1960ern. Aufgeräumt, aber trostlos. Dazwischen auf kahlen Rasenflächen: ein paar Jugendliche in dicken Daunenjacken, die dunklen Kapuzen über die Köpfe gezogen.
Keine Spur von Bullerbü: Wo Kinder in Schweden morden




Der Stadtteil Hovsjö ist eines von vier sogenannten gefährdeten Gebieten in der 75.000-Einwohnerstadt Södertälje südlich der schwedischen Hauptstadt Stockholm. Beinahe im Wochentakt gibt es hier Schießereien auf offener Straße. Hovsjö steht für ein Problem, das es in ganz Schweden gibt: Extrem gewalttätige Drogen-Banden machen die Randbezirke der Hauptstadt sowie Vorstädte unsicher. Jedes Jahr sterben Dutzende Menschen im Drogenkrieg. Und die Gangs rekrutieren immer jüngere Mitglieder, viele sind noch Kinder.
Kriminelle Banden in Schweden: Täter und Opfer sind oft noch Kinder
„Manche sind elf, zwölf Jahre alt“, sagt Polizist Patrick Torneus. Er und seine Kollegin Jessica Edmann sind heute mit der Patrouille dran, Tag und Nacht zeigt die Polizei in Hovsjö Präsenz. Das Sicherheitsgefühl der Bewohner ist arg angeknackst. Neuerdings gibt es öfter auch Explosionen, die Gangs werfen Handgranaten oder lassen selbstgebastelte Bomben vor den Hauseingängen ihrer Feinde hochgehen. Immer wieder werden dabei auch Unbeteiligte verletzt. Die Waffen kommen auf obskuren Wegen aus Krisengebieten nach Schweden, den Sprengstoff für die Bomben stehlen die Gangs von Baustellen.
Den Banden geht es um Geld, sie dealen im großen Stil mit Cannabis, vor allem aber mit Kokain, das in Schweden, wie auch in anderen Ländern Europas, immer mehr zu einer Volksdroge wird. Kaufen kann man den Stoff, der oft über Umschlagplätze in den Niederlanden nach Skandinavien kommt, in Gegenden wie Hovsjö an vielen Ecken. „Open Drug Scene“ – offene Drogenszene – nennen sie das hier. „Jeder kann vorbeigehen und sich was holen, jeder weiß Bescheid“, sagt Torneus. Der Straßenpreis: 800 schwedische Kronen (knapp 70 Euro) für 0,2 Gramm. Letztlich trügen die Konsumenten, die ein bisschen high werden wollten, mit zur Gewalt bei.
Handel mit Kokain und Cannabis: Drogen-Gangs machen Schwedens Vorstädte unsicher
Die Drecksarbeit, Diebstähle und Mordanschläge, erledigen oft Kinder und Jugendliche für die Banden. Weil sie noch nicht die Strafmündigkeit erreicht haben, die in Schweden bei 15 Jahren liegt. Über soziale Medien, Computerspiel-Chats oder Telegram-Gruppen locken die Gangs die Kinder. Die Banden betreiben in den Chats regelrechtes Love-Bombing, überschütten die Kinder mit Aufmerksamkeit – bis sie anbeißen. Viele der Gang-Mitglieder haben selbst Gewalterfahrungen gemacht, kommen aus zerrütteten Familien. Den Rekruten versprechen sie Geld; mal 5000 Euro, mal 10.000 manchmal noch mehr. „Das Geld bekommen sie dann in der Regel nicht, aber aus den Fängen der Banden kommen sie kaum wieder heraus“, erklärt Jessica Edmann.
Sie und ihr Kollege Torneus sind zu Fuß unterwegs. Die Hinterhöfe sind verwinkelt, schlecht einsehbar, mit Autos kommen sie hier nicht weiter. Unternehmen wie AstraZeneca und Scania stampften die braunen Häuser einst aus dem Boden, um während des schwedischen Wirtschaftsaufschwungs in den 60ern die vielen neuen Arbeiter unterzubringen. Fast alle der einstigen Arbeiter sind längst weggezogen, jetzt ist der Ausländeranteil hoch in dem Viertel, die meisten Bewohner stammen aus Syrien und Armenien. Sie können sich die teuren Wohnungen in anderen Viertel oder in der Hauptstadt nicht leisten. Ein Versäumnis der letzten Regierungen Schwedens, da sind sich Experten einig: Über Jahre haben sie eine regelrechte Ghettoisierung zugelassen.
Kameras, die oben an den Häusern hängen, liefern hochauflösende Bilder, auf die die Polizisten mit ihren Smartphones zugreifen können. „Oft hängen Banden in den Hauseingängen oder in Treppenhäusern ab“, sagt Patrick Torneus. Wenn sie bemerken, dass Jugendliche und Kinder sich in der Nähe der Gangs herumtreiben, bringen sie sie im Streifenwagen direkt nach Hause, wo sie das Gespräch mit den Eltern suchen. „Im Idealfall verhindern wir Verbrechen, bevor sie passieren“, sagt Jessica Edmann.
„Na, schon Schule aus?“, fragt Torneus eine Gruppe Jugendlicher im Vorbeigehen. Die Jungen – vielleicht elf, zwölf Jahre alt, feixen. Sie kennen die beiden Polizisten. „Vertrauen zu den Bewohnern aufzubauen, ist das A und O“, sagt Torneus.
Polizei in Schweden will an die älteren Banden-Mitglieder – „Nase voll von der Gewalt“
Der Platz hinter dem Hovsjö-Grill ist wie leergefegt. Vor ein paar Monaten lag dort der Körper eines 15 Jahre alten Jungen, blutend. Ein 16-Jähriger hatte ihm mit einer Pistole ins Gesicht geschossen, in den Bauch, in die Beine. Sein Opfer überlebte nur knapp. Der Schütze floh zusammen mit einem Komplizen auf einem E-Roller, wurde später gefasst. Zehn Personen waren an der Tat beteiligt, typisch für die Gangkriminalität: Einer besorgte die Waffe, einer den E-Roller, wieder ein anderer stand Schmiere.
Die Taktik der Behörden: Sie wollen vor allem an die älteren Gangmitglieder, um die Strukturen zu zerschlagen. Das zeigt sich auch an den Urteilen. Der 16-jährige Täter etwa musste für drei Jahre in eine geschlossene Jugendeinrichtung. Zwölf Jahre Haft gab es hingegen für einen Mittäter im Alter von Mitte 20, der eine Wohnung angemietet hatte, die als Unterschlupf dienen sollte. Die Leute empfänden das durchaus als gerecht, sagt Södertäljes Polizeichef Kristoffer Olofsson: „Sie haben die Nase voll von der Gewalt. Sie wollen, dass es aufhört.“
Rubriklistenbild: © Peter Sieben
