„Kann Plutonium erzeugen“
„Grund zur Sorge“: Nordkorea nimmt offenbar zweiten Atomreaktor in Betrieb
Trotz UN-Beschlüssen macht Nordkorea offenbar Fortschritte in seinem Nuklearprogramm. Ein zweiter Atomreaktor könnte bereits in Betrieb sein.
Alles auf Kurs im Staate Nordkorea – so lesen sich in diesen Tagen die Erfolgsnachrichten, die die staatliche Nachrichtenagentur KCNA verlässlich wie immer an die Öffentlichkeit trägt. Ein Stahlwerk im Nordosten des Landes habe einen neuen Hochofen in Betrieb genommen, ein Seminar zur nationalen Juche-Ideologie sei erfolgreich abgehalten worden, und eine Brauerei in Pjöngjang habe, wie jedes Jahr, ihre Produktionsvorgaben erfüllt. Nur eine Nachricht sucht man vergeblich inmitten all der Jubelmeldungen: Nordkorea macht offenbar wichtige Fortschritte bei seinem Nuklearprogramm.
Wie die Internationale Atomenergiebehörde IAEA in Wien am Donnerstag mitteilte, gibt es starke Hinweise darauf, dass das Land einen zweiten Atomreaktor in Betrieb genommen hat, was eine klare Verletzung von UN-Beschlüssen darstellen würde. Die Behörde habe am Leichtwasserreaktor der Nuklearanlage Yongbyon nördlich der Hauptstadt Pjöngjang „verstärkte Aktivitäten“ beobachtet sowie ein „verstärktes Austreten von Wasser aus dem Kühlungssystem“, sagte IAEA-Direktor Rafael Grossi. Neuesten Erkenntnissen zufolge sei das ausgetretene Wasser warm – das deute darauf hin, dass der Reaktor bereits seit einiger Zeit in Betrieb sei, so Grossi in einer Mitteilung.
Nordkoreas neuer Leichtwasserreaktor kann „Plutonium erzeugen“
Da die IAEA keinen Zugang zu dem Nuklearkomplex habe, könne sie den Betriebszustand des Reaktors allerdings nicht mit Sicherheit bestätigen. Seit 2009 verweigert Nordkorea den IAEA-Inspektoren die Arbeit in dem Land. Aufschluss über die Fortschritte des Atomprogramms gibt unter anderem die Auswertung von Satellitenbildern.
Grossi sprach trotz der Unsicherheiten von einem „Grund zur Sorge“. Denn der Leichtwasserreaktor könne, wie jeder andere Reaktor auch, „Plutonium erzeugen, das bei der Wiederaufbereitung abgetrennt werden kann“. Die Experten Jeffrey Lewis und David Schmerler vom James Martin Center for Nonproliferation Studies (CNS) in Kalifornien schätzen, dass der nun in Betrieb genommene Reaktor „bis zu 20 Kilogramm zusätzliches waffenfähiges Plutonium im Jahr produzieren kann“. Auf denselben Wert kam bereits im April eine Schätzung des Institute for Science and International Security (ISIS) in Washington. Der Reaktor, dessen Bau 2010 begonnen habe, sei möglicherweise „eine wichtige Quelle für Plutonium für das Atomwaffenprogramm“ Nordkoreas, so Lewis und Schmerler.
Steht Nordkorea kurz vor einem weiteren Atomwaffentest?
Das abgeschottete Land hat seit 2006 sechs Atomtests durchgeführt, zuletzt im September 2017. Damals schätze der US-Geheimdienst, dass Nordkorea genug spaltbares Material für den Bau von 60 Atomwaffen besitze – und dass jedes Jahr Material für zwölf weitere Bomben produziert werden könne. Auf Basis dieser Schätzung könnte Diktator Kim Jong-un heute also über mehr als 100 Atomwaffen verfügen. Das ISIS schätzte die Zahl der Nuklearsprengköpfe im April hingegen auf 31 bis 96 Stück.
Durch die Inbetriebnahme des Leichtwasserreaktors in Yongbyon dürfte dem Regime von Kim Jong-un nun noch mehr Plutonium zur Verfügung stehen. Unter Kim nahm das Nuklearprogramm des Landes an Fahrt auf, vier der sechs bislang erfolgten Atomtests führte Nordkorea seit seiner Machtübernahme 2011 durch. Experten und Geheimdienstler erwarten, dass ein weiterer Test jederzeit erfolgen könnte; darauf würden Aktivitäten am Testgelände Punggye-ri im Nordosten des Landes hindeuten.
Nordkorea treibt Raketenprogramm voran
Parallel dazu beschleunigt Kim das nordkoreanische Raketenprogramm. Erst am Montag testete das Regime eine Interkontinentalrakete (ICBM) vom Typ Hwasong-18 – ein Verstoß gegen UN-Sanktionen. Die Rakete kann theoretisch das gesamte Gebiet der USA erreichen sowie mit einem Atomsprengkopf bestückt werden. Unklar ist allerdings, ob die nordkoreanischen Sprengköpfe bereits klein genug sind, um auf ICBM montiert zu werden.
Der Test habe sich gegen „die USA und die Militärgangster der Republik Korea“ – gemeint ist Südkorea – gerichtet, hieß es laut Staatsmedien. Am Donnerstag berichtete KCNA zudem, dass Kim das Militäramt für Raketen angewiesen habe, „nicht zu zögern“, einen nuklearen Angriff zu starten, „wenn der Feind mit Atomwaffen provoziert“. Unter anderem die USA, Japan und Südkorea verurteilten den jüngsten Raketentest und forderten Nordkorea auf, „weitere Provokationen einzustellen“.
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