Schlacht um Awdijiwka
Putins hoher Blutzoll: Wagner-Söldner füllen die gelichteten Reihen an der Kriegsfront auf
Sie sind wieder da: die Wagner-Söldner. Weil die regulären russischen Einheiten vor Awdijiwka ausbluten, schickt Russland ehemalige Prigoschin-Anhänger an die Front.
Awdijiwka – Anscheinend sind sie wieder aufmarschiert, wie aus der Versenkung heraus: die Wagner-Söldner. Oder vielmehr die Reste davon. Offenbar stehen frühere Anhänger des Söldner-Führers Jewgeni Prigoschin in regulären Einheiten von Russlands Invasionsarmee aktuell an der Front in Awdijiwka. Das berichtet jetzt das Institute for the Studies of War (ISW) unter Berufung auf Äußerungen eines russischen Offiziers im russischen Kurznachrichtendienst Telegram. Prigoschin ist vermutlich im August durch einen Flugzeugabsturz getötet worden, und seitdem wird über die Zukunft seiner Söldner spekuliert. Jetzt werden ehemalige Wagner-Söldner auch in Diensten seines tschetschenischen Erzfeindes Ramsan Kadyrow gesichtet.
Russland schickt im Ukraine-Krieg immer mehr Wagner-Kämpfer an die Kriegsfront
Laut ISW dienen die Wagner-Söldner hauptsächlich im armenischen „Arbat“-Bataillon, das, wie Ukrainska Prawda berichtet, von Hayk Gasparyan – Kampfname „Abrek“ – kommandiert wird; Ukrainska Prawda zufolge ebenfalls ein Wagner-Söldner. Das Bataillon soll erst in diesem Jahr aufgestellt worden sein – via facebook hatten die Verantwortlichen darüber berichtet, wie das Bataillon in einer armenisch-apostolischen Kirche in Moskau gesegnet wird.
Aus diesem Bataillon heraus füllen die Söldner jetzt beispielsweise die 22. Spezialbrigade der separaten Garde auf – eine Einheit für spezielle Operationen in der Armee Wladimir Putins. Im April hatte die Washington Post geschrieben, dass diese wie auch andere Kommando-Einheiten im Verlauf des Ukraine-Krieges bereits bis zu 95 Prozent ihrer Kampfkraft eingebüßt hätten. Laut ISW sollen die Wagner-Söldner dort als Drohnen-Operatoren eingesetzt werden sowie für die Elektronische Kriegführung, allerdings genauso in aktiven Kämpfen – offenbar verstärken sie Einheiten dort, wo sie im Ukraine-Krieg jeweils gebraucht werden.
Verlustreicher Angriff auf Awdijiwka: Putins Truppen bluten im Ukraine-Krieg aus
Die ursprüngliche wie aktuelle personelle Stärke der Wagner-Einheiten war immer nur geschätzt worden. „Die US-Regierung geht von Zehntausenden Söldnern alleine in der Ukraine aus. Andere Experten schätzen die Gesamtzahl der Wagner-Truppe auf nur 5.000 Söldner“, schrieb beispielsweise die Deutsche Welle Anfang diesen Jahres. Zu Beginn des Ukraine-Krieges soll der Söldner-Führer Prigoschin hauptsächlich ausgebildete Veteranen der russischen Armee unter Waffen gehabt haben. Während seines Marsches auf Moskau im Juni 2023 sprach er von einer Truppenstärke von rund 25.000 Gefolgsleuten.
Seine Miliz hatte er aus den russischen Gefängnissen rekrutiert. Dort will er, eigenen Angaben zufolge, rund 50.000 Männer ausgehoben und für eine Dienstzeit von sechs Monaten für verschiedene globale Einsätze verpflichtet haben – beispielsweise in Afrika, bezahlt von der russischen Regierung. Dann auch für die ersten Angriffe auf die Ukraine. Etliche Tausend könnten inzwischen gefallen oder wieder aus dem Dienst entlassen worden und aus der Ukraine nach Russland zurückgekehrt sein.
Anfang August waren dann Teile der Wagner-Söldner in Belarus stationiert, um dortige Kämpfer auszubilden, bis sie Anfang September ihre Zelte dort offenbar abgebrochen haben. Die aktuellen Nachrichten über ihre Verwendung in Awdijiwka sind seit dieser Zeit deren erste Lebenszeichen. Der Kampf um die Kleinstadt im Verwaltungsbezirk Donezk in der Ukraine ist eher als Nebenkriegsschauplatz zu bezeichnen, wie der Militärexperte Carlo Masala im Hamburger Abendblatt erklärt hat: „Moskau versucht damit auch, die Front im Süden zu entlasten, indem ukrainische Kräfte im Donbass gebunden werden. Die Schlacht um Awdijiwka hat eher symbolischen Charakter.“
Putins Menschenbild: Höhe der Verluste unerheblich
Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, ist der Kampf um Awdijiwka blutig. „Sie werfen offenbar alles, was irgendwie verfügbar gemacht werden kann in diese Schlacht – so hat man den Eindruck“, sagt beispielsweise der ehemalige Nato-General Erhard Bühler gegenüber dem Mitteldeutschen Rundfunk. „Die Angreifer sind dort mittlerweile ein buntes Gemisch aus regulären Truppenteilen, aufgefüllt mit mobilisierten, schlecht ausgebildeten Reservisten, Separatisten-Truppenteilen aus Donezk und Söldnern verschiedener Privatfirmen.“
Nach Bühlers Informationen sollen allein in dem wenige Tage alten Angriff auf Awdijiwka rund 5.000 russische Soldaten gefallen sein. Die zuletzt vom ukrainischen Generalstab über facebook veröffentlichten Schätzungen der russischen Verluste im Ukraine-Krieg liegen bei insgesamt knapp unter 300.000 Gefallenen. Das Menschenbild in Russland widerspricht dem europäischen klar – das wurde vor allem in den Kriegen Russlands offensichtlich und ist jetzt überdeutlich: Als Stresstest für die Legitimation des Putin-Regimes hatte der deutsche Thinktank Stiftung Wissenschaft und Politik den Ukraine-Konflikt bereits kurz nach dessen Ausbruch bezeichnet. Dessen Prophezeiungen sind eingetreten.
Prigoschin stirbt bei Flugzeug-Katastrophe – Bilder vom Unglücksort




Die Forscher erwarteten, „dass die Invasion in der Ukraine noch stärker als bisher mit veralteten, hauptsächlich auf Masse beruhenden Konzepten von Kriegsführung fortgesetzt wird“, wie sie schrieben. Historiker hatten dieses Verhalten aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg als „Taktik der menschlichen Welle“ bezeichnet und damit das Überrennen des Gegners mit der schieren Zahl an mehr oder weniger gut ausgerüsteten oder mehr oder minder gut ausgebildeten Soldaten gemeint. Mit dem Eingraben der Russen vor der jetzt laufenden Gegenoffensive der Ukraine war dieses Konzept gescheitert. Und wird jetzt offenbar doch wieder fortgesetzt.
Scheinbar heiligt der Zweck die Mittel – denn von Prigoschins Verschwinden profitiert auch sein Erzfeind Ramsan Kadyrow. Dessen tschetschenisches „Achmat“-Bataillon war die einzige Militäreinheit in Russland, die sich bereit erklärt hatte, Prigoschins bewaffneten Aufstand im Juni niederzuschlagen. Jetzt sind offenbar auch dort ehemalige Wagner-Söldner aufgetaucht.