„Das ist wichtig“
Verluste-Problem im Ukraine-Krieg: Experte erklärt Lehre der vergangenen Monate – und appelliert an Nato
Zehntausende Soldaten sind im Ukraine-Krieg gestorben – auch in hohen Rängen gibt es Verluste. Das zeigt Auswirkungen auf dem Schlachtfeld.
Helsinki/London – Russlands Krieg in der Ukraine hat in den vergangenen 20 Monaten viele Gewissheiten erschüttert – und teils bittere neue Erkenntnisse hervorgebracht. Gemessen an der Sorge um die Friedensordnung als Ganzes ist die folgende eher klein, aber dennoch von Belang:
Einem britischen Forscher zufolge leiden Russland, aber auch die Ukraine unter einem wachsenden Mangel an kompetenten Führungskräften in ihren Armeen. Er sieht deshalb auch die Nato unter Zugzwang und fordert eine Anpassung der Strategien.
Verluste im Krieg: Russland und die Ukraine bräuchten fähige Offiziere
„Eines der größten Probleme der Ukraine im Moment ist, dass sie viele ihrer am besten ausgebildeten Offiziere im Krieg verloren hat“, sagte Jack Watling, Experte für Bodenkriegsführung, dem finnischen Sender YLE in einem am Mittwoch (25. Oktober) veröffentlichten Interview. Es seien aber beide Länder vom Mangel an Führungskräften mit Wissen zur Organisation großer Operationen und zu modernen Waffensystemen betroffen.
„Der Krieg hat gezeigt, wie tödlich und exakt moderne Artillerie funktioniert und wie schnell sie reagieren und sich umstellen kann. Es ist also enorm gefährlich, Truppen auf einem Gebiet zu konzentrieren“, betonte der Forscher des britischen Thinktanks RUSI – wohl gerade mit Blick auf teils verheerende Schläge auf Truppenunterkünfte oder auch Hauptquartiere wie jenes der russischen Krimflotte.
Sowohl Russland als auch die Ukraine kämpfen nun mit kleinen Einheiten und isolierten Operationen, weil sie große nicht stemmen können.
Watling sieht eine wichtige Lehre auch für die Nato: Das Bündnis habe sich stark darauf verlegt, Aktivitäten zu verschleiern. Genau das sei aber mittlerweile mehr oder minder „unmöglich“, wenn es um Einsätze auf dem Schlachtfeld gehe.
Russland sei dafür bekannt, Schwächen des Feindes im Bodenkampf auszunutzen und handle aggressiv, erklärte Watling weiter: „Wir müssen uns anpassen. Das ist sehr wichtig.“ Anpassungs- und Informationsbedarf bei der Nato sahen zuletzt auch ukrainische Soldaten, nachdem sie das Training des Bündnisses durchlaufen hatten.
Russland und Ukraine kämpfen „mit kleinen Einheiten“ – weil Kompetenz für andere Lösungen fehlt?
Die These eines Mangels an qualifiziertem militärischen Führungspersonal in den Armeen Russlands und der Ukraine scheint plausibel. Die britische BBC berichtete schon Ende September über unorthodoxes Vorgehen der Ukraine an der Front: Der Sender besuchte eine Einheit im Donbass und erfuhr, dass 15 ihrer Kommandeure seit Kriegsbeginn entweder befördert oder kampfunfähig gemacht worden waren – zugleich seien einfache Gefreite de facto verantwortlich für bestimmte Aufgabenfelder, etwa die Drohnenkriegsführung der Brigade. Russland hatte nach westlichen Darstellungen schon zu Beginn des Überfalls viele Generäle verloren, teils angeblich unter grotesken Umständen.
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Watling sieht Folgen für das aktuelle Kriegsgeschehen – auf beiden Seiten: Ohne kompetente Offiziere seien großangelegte Aktionen unmöglich, erklärte er YLE. „Sowohl Russland als auch die Ukraine kämpfen nun mit kleinen Einheiten und isolierten Operationen, weil sie große nicht stemmen können.“
Die Rolle der Nato sieht Experte Watling aus den genannten Gründen auch auf lange Sicht nicht im Bereitstellen von gewöhnlichen Bodentruppen. Die größte Stärke der Nato seien ihre gut ausgebildeten, professionellen Soldaten. „Die Ukraine kann ausreichend Soldaten bereitstellen. Aber wir haben kompetente Profis, die große Einheiten auf dem Schlachtfeld koordinieren können“, erklärte er. (fn)
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