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Interview
Juso-Chef kritisiert CDU und SPD: „Bekämpfung von Islamismus mit Bekämpfung von Migration verwechselt“
Philipp Türmer ist Chef der Jusos. Im Interview erklärt er, wieso kaum noch jemand die SPD unterstützt und fordert von Kanzler Scholz eine klare Linie.
Als Chef der „Jungen Wilden“, der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten der SPD hat es Tradition, radikaler als die ältere Generation aufzutreten. Diese Linie führt der Offenbacher Juso-Chef Philipp Türmer fort. Im Interview mit IPPEN.MEDIA nimmt er bei Kritik an der Ampel-Koalition und seiner eigenen Partei kein Blatt vor den Mund. Türmer kritisiert populistische Narrative in der Migrationsdebatte, fehlende Konsequenz in der Sozialpolitik und fordert mehr Mittel für Freiwilligendienste.
Herr Türmer, der schreckliche Angriff in Solingen hat kurz vor den Wahlen zu einer härteren Migrationspolitik geführt. Haben Friedrich Merz und die CDU der Ampel dieses Paket diktiert?
Friedrich Merz wollte vor allem aus Profilierungssucht die Koalition auseinandertreiben. Zudem hat er Vorschläge in den Raum gestellt, bei denen ganz erhebliche Zweifel an der rechtlichen Umsetzbarkeit bestehen. Ich kritisiere dabei besonders, dass die Bekämpfung von Islamismus verwechselt wurde mit der Bekämpfung von Migration. Leider hat die Ampel diesen Fehler mit ihrem Sicherheitspaket auch gemacht, indem sie ein Sicherheitspaket vorgestellt hat, das vor allem Maßnahmen gegen Geflüchtete enthält. Auch wenn diese nicht so radikal sind wie die von Friedrich Merz, kritisieren wir das. Es hätte stattdessen einen deutlicheren Fokus auf Islamismusbekämpfung gebraucht.
Philipp Türmer ist Chef der Jusos und geht mit der Ampel-Koalition hart ins Gericht. Ihn wundert die Unbeliebtheit der Regierung nicht, da die Sozialpolitik aus Berlin nicht mit letzter Konsequenz durchgezogen werde.
Apropos Bekämpfung, der Täter hat sich erst in Deutschland radikalisiert. Liegt darin nicht das eigentliche Problem, das das Attentat verdeutlicht hat?
Absolut. Eigentlich müssten wir eine ehrliche Debatte führen, wie wir Islamismus bekämpfen, und zwar international wie auch hier bei uns. Die meisten Attentäter der letzten Jahre haben sich in Deutschland aufgrund eines fehlenden, stabilen Umfelds und auf sozialen Netzwerken radikalisiert. Wir brauchen deshalb Maßnahmen zur Deradikalisierung und eine stärkere Präventionsarbeit. Stattdessen führen wir eine von vielen Seiten instrumentalisierte Debatte um Asyl und Migration.
Was meinen Sie mit Deradikalisierung?
Wir müssen über Islamismusbekämpfung reden. Das ist die Prävention auf der einen und die Deradikalisierung durch zivilgesellschaftliche Programme auf der anderen Seite. Die Ampel hatte bereits geplant, mit dem Demokratiefördergesetz solche Maßnahmen zu fördern. Das Problem ist, dass die FDP es seit mehr als 500 Tagen im zuständigen Ausschuss blockiert. Dabei wären die Bedrohungen durch Islamisten und Rechtsextreme jetzt genau der richtige Zeitpunkt, um hier Tempo zu machen.
Die Migrationsdebatte nimmt seit Jahren viel Raum in öffentlichen Debatten ein. Gemessen an den Alltagsproblemen der Menschen – sprechen wir zu oft und falsch über Migration?
Ich wünschte mir, wir könnten mehr auf die tatsächlichen Alltagssorgen der Menschen blicken. Das sind niedrige Löhne, hohe Mieten oder so banal klingende Dinge wie ein langer Weg zur Arbeit. Diese Sorgen müssen wir stärker adressieren und Lösungen aufzeigen. Statt dieser Themen nimmt der Blick auf Probleme bei Asyl- und Migrationsfragen in der öffentlichen Debatte häufig einen unverhältnismäßig großen Raum ein. Dabei müssen wir wirklich über Migration reden – aber mit anderen Vorzeichen! Wir sind ein alterndes Land und auf Zuwanderung angewiesen. Das müssen wir gut organisieren und ganz dringend raus aus der von rechts geführten Migrationsdebatte.
Steigende Preise und Mieten, das sind sozialdemokratische Kernthemen, die alle betreffen. Und trotzdem dringt die SPD damit nicht mehr zu den Menschen durch. Wieso?
Es gibt unterschiedliche Gründe dafür. Wir müssen intensiv und ehrlich diskutieren, wenn es etwa um die Gerechtigkeit in unserem Steuersystem geht. Da geht es nicht um Umverteilung oder Almosen, sondern darum zu sagen: Wir wollen 95 Prozent der Bevölkerung steuerlich entlasten und dafür die reichsten 5 Prozent stärker belasten. Wenn wir diesen gerechten Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand ermöglichen und das auch so kommunizieren, wäre viel geholfen.
Dabei hat die SPD in der Bundesregierung für Menschen mit kleineren Einkommen doch schon einiges umgesetzt.
Ja. Etwa die Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro war super. Dann kam aber schnell die massive Inflation und hat das wieder aufgefressen. In der Wohnungspolitik hat die SPD dafür zu wenig gemacht. Natürlich hat die Ampel in vielen Bereichen mehr als die GroKo geschafft. Aber in der Zeit konservativ geführter Regierungen sind Probleme so groß geworden, dass die Lösungen der Ampel häufig nicht ausreichend waren. Das sorgt berechtigterweise für Enttäuschung, vor allem auch bei jungen Menschen.
Wird beim Blick auf die jüngsten Wahlergebnisse in Deutschland nicht deutlich, dass eben diese linke Sozialpolitik die Menschen einfach nicht mehr abholt?
Die Rechten haben es geschafft, Debatten in vielen gesellschaftlichen Bereichen zu verschieben. Weg von der Frage, wie wir Lösungen finden, hin zu: Wer ist schuld? Wir müssen aus dieser Dynamik ausbrechen und den Eindruck vom überforderten Staat auflösen.
Und wie?
Unser Staat hat sich in den letzten Jahren verzwergt und selbst Fesseln angelegt. Ganz wesentlich ist da die Schuldenbremse, die die Handlungsfähigkeit des Staates einengt, anstatt den Menschen zu sagen: ‚Ja, wir können eure Probleme lösen‘. Viele Menschen glauben daran nicht mehr und denken deshalb, es sei egal, wen man wähle.
Wohl auch deshalb haben sich viele Menschen von der SPD abgewandt, das klassische Arbeiterklientel wählt nicht mehr rot. Sind die Zeiten der Arbeiter- und Volkspartei irreversibel vorbei?
Diese Zeiten müssen wiederholbar sein. Die SPD macht Politik für Arbeiter*innen, auch, wenn sich viele Menschen gar nicht mehr mit dieser Zuschreibung identifizieren können. Daher müssen wir vermitteln, dass wir Politik für 95 Prozent der Menschen machen. Wer arbeiten geht, wer Familie hat, eine Kita will, gute Krankenhäuser und eine pünktliche Bahn: Diese Menschen sind unsere Zielgruppe. Das wollen wir Jusos auch mit Blick auf die nächste Bundestagswahl klarmachen.
Halten Sie es überhaupt für möglich, dass die SPD bei einer Bundeswahl je wieder auf 30 Prozent kommt?
Im Moment scheint es weit entfernt. Wir sehen aber gerade am Beispiel der US-Demokraten, wie schnell sich die Stimmung und Momentum in der Gesellschaft wandeln können.
Bei den US-Demokraten war der Anlass für dieses Momentum ein Wechsel in der Parteispitze...
Die Frage ist, welches Personal die eigenen Inhalte glaubhaft vertreten kann. Personalentscheidungen sind deshalb immer von Inhalten abzuleiten.
Vertritt Olaf Scholz die Inhalte mit Blick auf künftige Wahlen denn glaubhaft?
Für die Bundestagswahl 2025 diskutieren wir gerade über die Ausrichtung. Ich erwarte, dass die SPD die soziale Gerechtigkeit in den Vordergrund stellt. Besonders beim Steuersystem fehlt diese. Wir belasten kleine und mittlere Einkommen über die Maßen, hohe Einkommen dagegen nur sehr wenig. Außerdem müssen wir die Schuldenbremse abschaffen.
So richtig glaubt bei der SPD momentan aber niemand an den großen Erfolg in naher Zukunft, oder?
Die Situation ist gerade schlecht. Das hat man leider bei der letzten Europawahl gesehen. Es gelang der Partei nicht, die Mitglieder in der Breite zu mobilisieren und motivieren. Wir Jusos haben aber auch in diesem Wahlkampf bis zuletzt gekämpft. Und das werden wir auch weiterhin tun. Für mehr klassisch sozialdemokratische Politik. Doch Vertrauen zurückzugewinnen, das geht nicht mit nur einer gewonnenen Wahl. Wir haben uns als Sozialdemokrat*innen nach der letzten Bundestagswahl vielleicht zu sehr zurückgelehnt. Insbesondere mit unserer Regierungsarbeit hätten wir den Vertrauensvorschuss der Menschen stärker ausfüllen müssen.
Sie Jusos kämpfen für ein soziales Miteinander. Das geht weit über die Politik hinaus. Gemeinnützige und ehrenamtliche Arbeit sind wichtige Säulen unserer Demokratie, aber sie steht zunehmend unter Druck.
Besonders Freiwilligendienste kommen häufig zu kurz. Es wird oft über ein Pflichtjahr nach der Schule diskutiert. Die Wahrheit ist aber, dass es schon jetzt jedes Jahr mehr FSJ- und BFD-Bewerber:innen als freie Plätze gibt. Die Freiwilligendienste werden unterfinanziert, im Haushalt 2025 wurden die Mittel nochmal um circa 40 Millionen Euro gekürzt. Dadurch gibt es weniger Möglichkeiten für ehrenamtliches Engagement junger Menschen. Dabei müssen wir in die entgegengesetzte Richtung. Da geht es auch um ein angemessenes Taschengeld. Jede und jeder sollte einen Freiwilligendienst machen können, nicht nur finanziell privilegierte Kinder. Dafür fordern wir eine Verdreifachung der Mittel durch Bund und Länder und ein Taschengeld, angelehnt an den BAföG-Höchstsatz.