Geschlechterspezifische Gewalt
3500 Schutzplätze fehlen: Deutschland lässt betroffene Frauen bei Femiziden und häuslicher Gewalt im Stich
Über 100 Frauen werden hierzulande pro Jahr durch ihren (Ex-)Partner getötet. Es braucht mehr Prävention, fordern Experten – doch Deutschland hinkt hinterher.
Berlin – Jetmira wollte es besser haben, für sich und ihre Kinder. Weg von der Kontrollsucht ihres Mannes und endlich selbstbestimmt leben. Sie zog um, begann eine Ausbildung bei einem Arzt. Doch nicht einmal nach der Trennung gewährte ihr Ehemann der 28-Jährigen ihren Wunsch nach Freiheit. Er lockte sie in einen Hinterhalt, und stach auf einem Aachener Obi-Parkplatz immer wieder mit einem Fleischermesser auf sie ein – am helllichten Tag, vor den Augen zahlreicher Kunden. Jetmira verblutete, drei Kinder verloren an diesem Tag ihre Mutter.
Jetmira war aus der vermeintlich unterwürfigen Rolle in der Partnerschaft ausgebrochen – und wurde deshalb getötet. Solche Gewalttaten werden als Femizide bezeichnet. „Dabei geht es um Kontrolle, der Täter ist der Auffassung, dass er darüber bestimmen darf, was die Frau tut“, erklärt Silvia Zenzen vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe Deutschland (bff). Die Anzahl solcher Fälle ist hierzulande seit Jahren auf einem stabil hohen Niveau – auch, weil zu wenig getan wird, um Frauen vor Gewalt zu schützen, so die Expertin.
Frauenberatungsstellen leiden „seit ihrer Entstehung an einer Unterfinanzierung“
Im Durchschnitt wurde 2022 an jedem dritten Tag eine Frau durch ihren (Ex-)Partner getötet. Schon seit Jahren werden Rufe laut, der Gewalt etwas entgegenzusetzen. Eine wichtige Rolle nehmen dabei Frauenberatungsstellen ein. Sie können dazu beitragen, dass Femizide gar nicht erst passieren. Sie zeigen Frauen den Weg aus einer gewalttätigen Beziehung auf, führen Sicherheits- und Risikoanalysen durch und können Betroffene rechtzeitig in Sicherheit bringen.
Doch das seien „sehr arbeitsintensive Fälle“, erklärt Zenzen. In ihrem Verband sind 210 Frauennotrufe und -beratungsstellen organisiert. Vielen der Einrichtungen fehle es an Personal und Geld, um die Fälle bearbeiten zu können. „Die Beratungsstellen, die bei uns Mitglied sind, leiden seit ihrer Entstehung an einer Unterfinanzierung. Die Mitarbeiterinnen arbeiten ständig am Limit“. Dort gebe es dringenden Handlungsbedarf: „Das ist auf jeden Fall eine Hausaufgabe, die sich die Bundesregierung, aber auch die Länder und Kommunen auf die To-do-Liste setzen müssen“.
Lange Wartezeiten auf Schutzplatz in Frauenhäusern
Deutschland zeigt zudem bei der europäischen Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt „erhebliche Umsetzungsdefizite“, stellte das Menschenrechtsüberwachungsgremium Grevio im Herbst 2022 fest. Unter anderem sind die Staaten dazu verpflichtet, ein einheitliches Fallmanagementsystem einzuführen. „Dort beratschlagen sich Polizei, Beratungsstellen, Staatsanwaltschaft, Jugendamt und Vertreter aus der Täterarbeit darüber, was dafür getan werden kann, dass Gewalt nicht weiter eskaliert“, erklärt Zenzen. Eine einheitliche Vorgehensweise gebe es auf Bundesebene bislang jedoch nicht.
Wer der gewalttätigen Partnerschaft entfliehen kann, findet Zuflucht in einem Frauenhaus – zumindest theoretisch. Denn auch hier gibt es einen eklatanten Mangel an Kapazitäten, wie eine Analyse des Recherchenetzwerks Correctiv zeigt. Demnach fehlen hierzulande rund 3.500 Schutzplätze. Im Jahr 2022 konnten die untersuchten Einrichtungen an durchschnittlich 303 Tagen niemanden mehr aufnehmen. Häufig ist im gesamten Bundesland kein einziger Platz mehr frei. Betroffene gehen dann oft in ihre gewohnte Umgebung zurück – und das kann fatale Folgen haben.
Bundesregierung will Istanbul-Konvention „vollumfänglich umsetzen“
Auch in der Politik hat man erkannt, dass Deutschland beim Schutz von Frauen Nachholbedarf hat – und gelobt Besserung: „Wir werden das Recht auf Schutz vor Gewalt für jede Frau und ihre Kinder absichern“, sagt Sönke Rix, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, zu IPPEN.MEDIA. „Dafür braucht es Frauenhausplätze, die bedarfsgerecht zur Verfügung stehen“. Aktuell bereite das Bundesfrauenministerium ein Gesetzgebungsverfahren vor, um einen bundeseinheitlichen Rechtsrahmen für ein verlässliches Hilfesystem zu schaffen. Die Istanbul-Konvention werde man „vollumfänglich umsetzen.“
Wie man Frauen aus der Gewaltspirale helfen kann
Für Frauen kann es sehr wichtig sein, dass auf ihren Hilferuf auch tatsächlich eben jene Hilfe folgt. Für sie sei es ohnehin schwer, sich einzugestehen, dass sie von Gewalt betroffen sind, weil es mit einer Scham behaftet ist, sagt Zenzen. „Meist ist die Beziehung ja auch nicht die ganze Zeit nur schrecklich, weshalb Frauen die Hoffnung haben, dass es sich alles wieder zum Besseren wendet“. Häufig gehen Femiziden und schwerer körperlicher Gewalt leichtere Gewaltformen voraus, beispielsweise eine Ohrfeige oder ein Schubsen. Im Nachgang sei in den Beratungsstellen dann eine Spirale zu erkennen, mit immer schlimmeren Gewaltakten.
Außenstehende sollten Betroffene deshalb nicht alleine lassen, auch wenn sie zu Beginn auf Ablehnung stoßen. Je nach Situation, gibt es zudem verschiedene Möglichkeiten, auch bei akuter Gefahr einzugreifen, ohne sich selbst zu gefährden. „Wenn ich als Nachbarin oder Nachbar höre, da passiert etwas, das gefährlich sein könnte, kann man dort klingeln und beispielsweise nach Salz oder Eiern fragen. Dadurch wird die Situation erstmal unterbrochen“. Wer unsicher ist, wie er mit der Situation umgehen soll, kann sich auch als Außenstehender an eine Frauenberatungsstelle wenden. (mg)
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