OVB24-Spendenaktion
Jede dritte Frau betroffen: „Keine Frau sollte Gewalt in ihrem Leben hinnehmen“
Jede dritte Frau hat in ihrem Leben schon einmal Gewalt erlebt. Jeden dritten Tag stirbt eine Frau durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners. Und das alles mitten in Deutschland, mitten unter uns und oft trauriger Alltag für den Frauen- und Mädchennotruf Rosenheim. Im Interview erzählt eine Mitarbeiterin von ihrer Arbeit und wer bei ihnen Hilfe findet.
Frau Bourges, wer kann sich an den Mädchen- und Frauennotruf wenden?
Tanja Bourges: Von Gewalt betroffene Frauen, Kinder und Jugendliche, die Gewalt gegen die Mutter erleben sowie Bezugspersonen, Freunde und alle, die sich Sorgen und Gedanken um eine betroffene Frau machen. Kinder und Jugendliche, die sexualisierte Gewalt erleben oder erlebt haben, sowie auch hier Bezugspersonen, Freunde, Familie, Fachpersonal und alle, die in irgendeiner Form Fragen dazu haben, etwas auffälliges beobachtet haben, nicht wissen, wie sie das einschätzen sollen und können, was sie in einem speziellen Fall tun können.
Mit welchen Problemen sind Sie am häufigsten konfrontiert? Wie helfen Sie den Frauen konkret?
Tanja Bourges: Das ist nicht so einfach und pauschal zu beantworten, da jede Anfrage und jeder Mensch eine individuelle Geschichte und Situation mit sich bringt. Häufig erleben wir am Anfang die Frage: Bin ich überhaupt richtig bei Euch? Ist das, was ich erlebe, Gewalt? Was kann ich tun, um mich aus dieser Situation zu befreien? In vielen Fällen geht es erstmal darum, die Ausgangssituation zu sortieren, sich anvertrauen zu können, Erlebnisse, Gefühle und Erfahrungen schildern zu können ohne Bedenken haben zu müssen, auf Vorbehalte und Ablehnung zu stoßen -einen Schutzraum für Frauen anzubieten, wo all das möglich ist. In anderen Fällen geht es mehr um die Bewältigung von Gewalterfahrungen und Übergriffen, um eine Fokussierung, den Alltag gut zu meistern, zum Beispiel zu klären, was brauche ich ggf. an Stabilisierungsmöglichkeiten, damit Veränderung möglich ist. In wieder anderen Fällen geht es um eine Akuthilfe im Hier und Jetzt, vor allem bei massiver körperlicher und psychischer Gewalt, da stehen Hilfe bei Rechtsfragen, Information und Unterstützung bei Gewaltschutzanträgen, ggf. Frauenhausplatzsuche, Möglichkeiten der maximalen Sicherheit für die Kinder und die betroffene Frau zu schaffen im Vordergrund.
Gemeinsam Hand in Hand: Liebesfragen und Frauen- und Mädchennotruf Rosenheim
Demütigungen, Beleidigungen, sexuelle Übergriffe, Handgreiflichkeiten: In ihrer Arbeit als Therapeutin ist Dorothea Perkusic auch immer wieder mit Gewalt gegen Frauen konfrontiert. Zum Jubiläum ihrer 200. Liebesfrage hier auf OVB24.de war es ihr deshalb eine Herzensangelegenheit den Frauen- und Mädchennotruf Rosenheim mit einem Spendenaufruf zu unterstützen.
Frauen- und Mädchennotruf Rosenheim e.V.
Bank: Sparkasse Rosenheim
IBAN: DE55 7115 0000 0000 0442 22
Wie häufig sind sexuelle Übergriffe in Deutschland/häusliche Gewalt - gibt es da Zahlen?
Tanja Bourges: Statistiken und Dunkelfeldberechnungen besagen, dass jede dritte bis vierte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt erlebt. Jeden dritten Tag stirbt eine Frau durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners. Ca. 43% aller Frauen gibt an, in Beziehungen körperliche und psychische Gewalt erlebt zu haben. Die vom BKA erfassten Zahlen sowohl hinsichtlich Partnerschaftsgewalt als auch hinsichtlich Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung benennen nur die bekannten, d.h. angezeigten und strafrechtlich verfolgbaren Straftaten. Die Dunkelziffer in diesen Bereichen, wie auch bei sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist um ein Vielfaches höher. Hier geht man davon aus, dass pro Schulklasse 1-2 Kinder von sexualisierter Gewalt betroffen sind (vgl. BKA 2022: jeden Tag 48 Kinder)
Die Form der Gewalt, die wir aber tagtäglich in der Beratung erleben ist häufig eine andere: Das ist eine systematische Dominanzgewalt des Partners/Ex-Partners, die mit oft neben körperlicher Gewalt massiv damit einhergehenden Manipulationen, Drohungen, Erpressungen, Klein-Machen, Demütigungen usw. darauf abzielt, eine klare Hierarchie in der Beziehung herzustellen. Da gibt es keine Beziehung und Kommunikation, die auf Augenhöhe stattfindet. Stattdessen viele Gefühle der Angst, Verzweiflung, des Zweifels, der Scham, der Ausweglosigkeit auf Seiten der Frauen und oft auch mit betroffenen Kindern.
Was müsste sich Ihrer Meinung nach in Deutschland ändern, evtl. auch gesetzlich, damit Frauen und Mädchen besser geschützt sind?
Tanja Bourges: Es müssen unserer Meinung nach viel mehr finanzielle Mittel bereit gestellt werden, Frauenhausplätze geschaffen werden, Personal in Beratungsstellen aufgestockt, Fortbildungen im Umgang mit häuslicher und/oder sexualisierter Gewalt angeboten werden und somit das Hilfesystem ausgebaut werden. Aber es ist unseres Erachtens auch eine gesellschaftspolitische Frage: wie kann es sein, dass es auch heute noch bei manchen Menschen bisweilen als Kavaliersdelikt gilt, wenn Frauen sexueller Belästigung ausgesetzt sind? Warum müssen wir zum Beispiel beim Oktoberfest oder auch Herbstfest in Rosenheim Flyer mit unserer Telefonnummer rausgeben oder „Tipps für eine sichere Gaudi“ für Mädchen und Frauen? Die Kolleginnen in München während der Wiesn vor Ort sein, um möglichst schnell Hilfe zu bieten bei sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen? Welche Haltungen und Gedanken in den Köpfen stehen dahinter, es als „normal“ anzusehen, dass Frauen sich auch heute noch schützen müssen vor Übergriffen und Gewalterlebnissen? Gewalt an Frauen ist ein gesellschaftliches Problem, kein Problem einzelner Frauen oder Familien. Unabhängig von Alter, Aussehen, Nationalität und sozialer Schicht. Da müssen wir doch letztendlich ansetzen, eine gesellschaftspolitische Diskussion starten, um Haltungen zu verändern.
Wie läuft eine Beratung dann bei Ihnen ab? Telefonisch, vor Ort, auch anonym? Kostet das etwas?
Tanja Bourges: Unsere Beratungen sind vollkommen kostenfrei und freiwillig, das ist uns sehr wichtig, dass alle die gleichen Beratungsmöglichkeiten haben unabhängig von Einkommen und Lebenssituation. Wir können per Telefon und per Mail kontaktiert werden, Beratungen finden sowohl telefonisch als auch persönlich statt oder wie es eben gerade für die Betroffene passt. Auch außerhalb unserer Öffnungszeiten können wir Termine vereinbaren, da gerade berufstätige Frauen oder auch Frauen mit kleinen Kindern natürlich zu den regulären Öffnungszeiten ganz schwierig Zeit finden oder auch die Situation vorliegt, dass es wenig Möglichkeiten gerade gibt, sich ohne Kenntnis des Partners mit uns in Verbindung zu setzen. Auch eine anonyme Beratung ist natürlich jederzeit möglich. Bei Bedarf können wir einen telefonischen Dolmetscher Dienst hinzuschalten, die Dolmetscherinnen beraten auch für das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen und sind in vielen Sprachen verfügbar. Für Begleitungen können wir beim örtlichen Dolmetschernetzwerk eine entsprechende Dolmetscherin anfragen.
Oft ist man unsicher als Frau und fragt sich, wie weit darf z.B. der Kollege/Chef/Bekannte gehen mit Anzüglichkeiten, Sprüchen, Berührungen? Gibt es da eine Faustregel? Und wie wehrt man sich dagegen?
Tanja Bourges: Eigentlich ist es doch ganz einfach: Alles Verhalten, dass eine einseitige Annäherung darstellt, erniedrigend oder beleidigend wahrgenommen wird, persönliche Grenzen verletzt und von der betreffenden Person nicht erwünscht ist, stellt eine sexuelle Belästigung dar. Dabei ist es nicht erheblich, ob die ausübende Person das so sieht, entscheidend ist, wie die betroffene Person das wahrnimmt. Im Unterschied zu einem Flirt, bei dem beide Parteien sich bewusst annähern, es von beiden Seiten gewünscht und gewollt ist und ein gutes Gefühl hinterlässt.
Wichtig zu wissen ist, dass sexuelle Belästigung in aller Regel erstmal aus einem Motiv der Macht und Dominanz heraus verübt wird. Nehmen wir mal ein Beispiel von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz: wir erleben in unseren Beratungen Frauen, die die Hoffnung hatten, dass es von alleine wieder aufhört, wenn sie es nur lange genug ignorieren (gerade in Fällen von Belästigung durch Vorgesetzte natürlich auch aus Angst, den Job zu verlieren, wenn sie sich zur Wehr setzen). Oder auch einfach erstmal so tun, als ob sie das alles nicht so schlimm finden, ihre eigenen Gefühle wegwischen, obwohl das flaue Gefühl im Magen immer mehr zunimmt und auch die Selbstabwertung, die hier stattfindet. Das ist in der Regel keine langfristige Lösung, da es selten von alleine wieder aufhört, im Gegenteil oft noch zunimmt in der Dimension, die Arbeitsatmosphäre vergiftet und die betroffenen Frauen ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch mit Magenschmerzen und Angst zur Arbeit gehen können.
An betroffene Frauen: Nehmen Sie Ihre Gefühle ernst. In der Regel hat jede Frau ein gutes Bauchgefühl, was in Ordnung ist und was eben nicht. Was Grenzen überschreitet. Sie und Ihre Wahrnehmung sind der Gradmesser dafür und nicht die Wahrnehmung der anderen. Und stehen Sie dazu, positionieren Sie sich und treten Sie für sich ein, dass Sie das nicht möchten!
Werden die Opfer von sexualisierter Gewalt/sexuellem Missbrauch mehr und auch jünger? (Stichwort Cyber Grooming) Wie schützt man seine Kinder davor?
Tanja Bourges: Die Frage lässt sich pauschal sehr schwer beantworten. Schaut man auf die offizielle Statistik, sind die Zahlen 2022 ähnlich wie im Jahr zuvor. Einen deutlichen Anstieg gibt es jedoch bei Missbrauchsdarstellungen von Kindern im Netz. Hier ist immer zu sagen: das sind die bekannten Fälle. Die entdeckten Fälle und angezeigten Straftaten. Wie schon oben gesagt ist die Dunkelziffer sicher weitaus höher. Schaut man auf die offiziellen Zahlen der Polizei Stadt und Landkreis Rosenheim betreffend gibt es einen Anstieg zwischen 2021 und 2022 hinsichtlich der gemeldeten Fälle.
Kinder vor Übergriffen im Netz zu schützen stellt eine große Herausforderung für Eltern und Bezugspersonen dar, für Kinder ist es oft schier unmöglich, die tatsächlichen Gefahren einschätzen zu können, wie ihr Vertrauen ausgenutzt werden kann. An dieser Stelle sind wir Erwachsenen gefragt, mit unseren Kindern in Kontakt zu sein, Internetnutzungsregeln zu vereinbaren und vor allem aufzuklären. Das wichtigste ist wohl hier wie in allen anderen Belangen, Ansprechpartner zu sein für seine Kinder, da zu sein, Interesse zu haben, wo die Kinder sich so analog und digital bewegen. Und vor allem klar zu machen, im Falle eines erfolgten Übergriffs im Netz trifft das Kind keine Schuld.
Was möchten Sie Frauen generell mit auf den Weg geben?
Auch wenn Sie zweifeln, ob Sie richtig sind: sprechen Sie mit uns. Wir schauen gemeinsam auf Ihre Situation, überlegen uns mögliche Wege und Lösungen und sollten Sie mit Ihrem Anliegen doch nicht richtig bei uns sein, dann werden wir uns immer bemühen, dass Sie an die richtige Stelle weitervermittelt werden. Es gibt immer Wege und Mittel der Veränderung, auch wenn es im Moment vielleicht nicht den Eindruck macht. Keine Frau sollte Gewalt in ihrem Leben als gegeben hinnehmen. Wir werden Ihnen nicht sagen oder vorschreiben, was Sie zu tun und zu lassen haben. Wir werden uns mit Ihnen auf den Weg begeben, Ihre Situation zu sortieren, sich vielleicht über einiges klar(er) zu werden und überlegen, was Sie tun können. Sie alleine entscheiden, was Sie tun und welchen Weg Sie gehen.
Natürlich sind auch Männer von häuslicher und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Prozentual weniger, aber das macht für einen betroffenen Mann überhaupt gar keinen Unterschied. In allen größeren Städten gibt es spezielle Beratungsstellen für Männer, die ebenso wie wir mit verschiedensten Möglichkeiten wie Telefon, Email, manchmal auch Chatberatung und natürlich auch im persönlichen Kontakt arbeiten. Holen Sie sich Hilfe und Unterstützung!
So unterstützt Ihr den Frauen- und Mädchennotruf Rosenheim
Beratung von Frauen, die von Gewaltformen jeglicher Art betroffen sind, Beratung und Prävention bei sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend, Aufklärung, Aktionen, Vorträge und Workshops auch für Fachpersonal von Kitas und Schulen gehören zum Aufgabenspektrum des Frauen- und Mädchennotrufs Rosenheims. Um diese wichtige Arbeit zu leisten ist der Verein auf Spenden angewiesen, denn fast 30% seiner Ausgaben müssen selbst gedeckt werden, das ist jährlich eine Summe von über 120.000 Euro - darum hilft jeder noch so kleine Betrag:
Frauen- und Mädchennotruf Rosenheim e.V.
Bank: Sparkasse Rosenheim
IBAN: DE55 7115 0000 0000 0442 22
Weitere Spenden-Infos unter https://frauennotruf-ro.de/ueber/
Direkt und einfach über Paypal spenden!
Frauen- und Mädchennotruf Rosenheim e. V.
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Telefon: 08031 - 268888
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