Präsidentschaftswahl 2022
Brasiliens Ex-Präsident Lula polarisiert – doch die Chancen auf ein offenes Duell mit Bolsonaro stehen gut
Korruptionsvorwürfe und Haftstrafe – Brasiliens Ex-Präsident spaltet die Gemüter. Bei der Präsidentschaftswahl 2022 könnte er Amtsinhaber Jair Bolsonaro gefährlich werden.
Brasilien – Eine schreiende, jubelnde Menge in deren Mitte ein bärtiger Mann auf einem improvisierten Podest aus Tischen steht. Das Stadion Vila Euclides in São Bernardo do Campo im Bundesstaat São Paulo ist voll bis an den Anschlag, 150.000 Menschen sind 1979 gekommen, um zu hören, was der Gewerkschaftsführer zu sagen hat. Während er spricht, kreisen Hubschrauber der Militärdiktatur über dem Stadion.
Der noch junge Mann, der dort vom wackeligen Podest ins Mikro schreit, ist Luiz Inácio Lula da Silva, kurz Lula. Über 20 Jahre später wird er 2002 zum Präsidenten von Brasilien gewählt und bleibt es für acht Jahre. Nach der Präsidentschaftswahl im Oktober 2022 könnte er erneut Präsident werden.
Die Szene im Stadion ist hat sich in den Köpfen von Millionen von Brasilianerinnen und Brasilianer festgesetzt, sie sind so etwas wie der Entstehungsmythos der politischen Karriere des großen Gewerkschafts- und Freiheitskämpfers Lula. Während er für die eine Hälfte der Brasilianer ein Held ist, ist er für die andere Hälfte das Feindbild schlechthin. Nur wenige Politiker in Brasilien polarisieren so stark wie er. Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, lohnt es sich, etwas genauer auf Lulas politische Karriere zu blicken.
Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien: Von der Gewerkschaft ins Parlament
Zum einen liegt die starke Polarisation rund um die Figur „Lula“ daran, dass in den 40 Jahren, die seit dem Auftritt im Stadion in São Bernardo do Campo vergangen sind, viel passiert ist: Als Anführer des Arbeiterstreiks wurde Lula 1980 von der Polizei der Militärdiktatur verhaftet und nach 31 Tagen wieder freigelassen. Er gründete dann gemeinsam mit anderen Gewerkschaftlern die brasilianische Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT).
Nach dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1985 zog Lula für die PT in den Kongress ein, ab 1989 lies er sich bei allen Präsidentschaftswahlen aufstellen – aber bei den ersten Versuchen unterlag er verschiedenen Kandidaten. „Damals trat er noch als klassischer Arbeiter auf“, sagt Tomas Kestler. Er ist Politikwissenschaftler an der Uni Würzburg und forscht zu Demokratien in Lateinamerika. „In Brasilien gibt es aber keine Mehrheit für linke Themen“.
Auch dem jungen Lula wurde das irgendwann klar. Daraufhin wandelte er sein Image vom Arbeiter zum Staatsmann, machte zum ersten Mal Wahlkampf mit Anzug und Krawatte, setze weniger stark auf klassisch linke Themen als auf Programme wie „Kein Hunger“ (Zero Forme) und ein besseres Ausbildungssystem. „Lula musste sich da den Spielregeln der brasilianischen Politik anpassen“, fasst Kestler zusammen.
2002 wurde der ehemalige Gewerkschaftler Lula dann Präsident, 2006 wurde bei den Wahlen nochmal für eine zweite Amtszeit bestätigt. Da die brasilianische Verfassung nur zwei Amtszeiten in Folge erlaubt, durfte er 2010 nicht mehr antreten. Er schlug dann Dilma Rousseff, ebenfalls von der Arbeiterpartei PT vor, und sie wurde Präsidentin.
Brasiliens Ex-Präsident Lula: Zwischen Armutsbekämpfung und Korruption
Vielen Brasilianerinnen und Brasilianern sind gerade die frühen Regierungsjahre Lulas positiv im Gedächtnis: Es waren Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs und verschiedene Sozialprogramme holten Untersuchungen zu Folge mehr als 30 Millionen Menschen aus der extremen Armut. Besonders bekannt ist das Sozialhilfeprogramm „Bolsa Familia“, das koppelte die Auszahlung von Sozialleistungen beispielsweise an den Schulbesuch von Kindern und daran, zu medizinischen Vorsorgeuntersuchungen zu gehen.
Deutlich weniger positiv waren die dann die letzten paar Jahre für Lula und die Arbeiterpartei: Es gab zahlreiche Korruptionsvorwürfe gegen PT Mitglieder, obwohl die Partei sich zuvor immer vehement gegen Vorteilsnahme und Vetternwirtschaft ausgesprochen hatte. Einen ersten Tiefpunkt erreichte das Ansehen von Lula mit dem Mensalão-Skandal, in dem Stimmen von Abgeordneten gekauft wurden. Lula wurde 2012 schuldig gesprochen daran beteiligt gewesen zu sein.
Danach ging es weiter bergab: 2016 verlor Regierungschefin Dilma Rousseff durch ein Amtsenthebungsverfahren ihren Posten, gerade linke brasilianische Kreise bezeichnen diesen Vorgang bis heute als Putsch. 2017 schließlich wurde Lula dann wegen Korruption zu einer Haftstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt. Trotzdem wollte er in der Präsidentschaftswahl 2018 nochmal antreten – als er aber tatsächlich in Haft musste, wurde das unmöglich. Jair Bolsonaro*, inzwischen parteilos, gewann dann die Wahl gegen Fernando Haddad von der PT.
Brasilien: Ex-Präsident Lula aus Haft entlassen - Polarisation um ihn wächst weiter
2019 wurde Lula freigelassen, weil Berufungsprozesse noch nicht abgeschlossen waren. Im Frühjahr dieses Jahrs dann wurden alle Urteile gegen ihn von Brasiliens Verfassungsgericht aufgehoben: Nicht, weil nachträglich Lulas Unschuld bewiesen wurde, sondern, so urteile das Gericht, weil das Gericht in Curitiba nicht dafür zuständig gewesen sei.
Dadurch ist die Polarisation rund um die Figur Lula weitergewachsen: Die eine Hälft der Brasilianer sieht Lula nun als jemanden zu Unrecht beschuldigt und verurteilten, als Widerstandskämpfer gegen ein unfaires System - aktuell und auch schon zu Zeiten der Militärdiktatur. Für die andere Hälfte ist er ein weiteres Rädchen im korrupten System.
Lula bei Präsidentschaftswahl in Brasilien: „Wahlchancen sind vollkommen offen“
Dass die Urteile aufgehoben wurden, wäscht zumindest Lula legale Weste wieder weiß und ermöglicht es ihm, erneut bei der Präsidentschaftswahl anzutreten: Die Hinweise darauf, dass der inzwischen 75-jährige das im kommenden Jahr auch tun will, verdichten sich. Umfragen kommen aktuell zu dem Ergebnis, das Lula womöglich schon im ersten Wahlgang gewinnen könnte. „Er ist der einzige linke Kandidat, der eine Chance haben könnte“, sagt Thomas Kestler. Bis vor Kurzem sei er überzeugt gewesen, dass jemand, der eine Chance gegen Bolsonaro haben könnte, aus dem rechten Lager kommen müsse.
Kestler sagt aber auch: „Wie die Wahlchancen wirklich sind, ist vollkommen offen“. Das liege vor allem daran, dass ein großer Teil der Brasilianer politisch ungebunden ist, das heißt sie entscheiden sich bei jeder Wahl relativ spontan dafür, welchen Kandidaten sie unterstützen wollen. Zurzeit steht noch nicht einmal fest wer im Oktober 2022 in Brasilien zur Wahl stehen wird.
Die Chancen auf ein Duell zwischen Lula und Bolsonaro sind aber hoch. „Dann wird einen starke Polarisierung den Wahlkampf prägen“, sagt Kestler. Eine Kandidatur von Lula werden auf jeden Fall Wählerinnen und Wähler mobilisieren, sowohl für als auch gegen ihn. „Für die Rechten und Konservativen in Brasilien ist Lula eine Reizfigur“, sagt er.
Präsidentschaftswahl in Brasilien 2022: Wähler achten auf finanzielle Vorteile
Aus der Sicht von Politikwissenschaftler Kestler könnte für die Wahl 2022 besonders die ökonomische Entwicklung bis dahin entscheidend sein. In Brasilien ist das sogenannte „economic voting“, also die Wahlentscheidung davon abhängig zu machen, wovon man sich den größten finanziellen Vorteil verspricht, weit verbreitet. „Je schlimmer die ökonomische Lage im kommenden Jahr, desto besser für Lula“, erklärt Kestler. „Und je besser sich die Wirtschaft bis dahin erholt, desto besser für Bolsonaro“.
Wichtig wird auch sein, welche Verbündeten sich Lula bis dahin ins Boot holt. Denn im brasilianischen Parlament sitzen zurzeit 25 Parteien, für Mehrheiten braucht es darum breite Koalitionen. Jair Bolsonaro regiert zurzeit beispielweise mit einer Koalition aus 14 Parteien. Auch daran scheint Lula bereits zu arbeiten – im Mai traf er sich mit seinem früheren Rivalen Fernando Henrique Cardoso aus der sozialdemokratischen Partei Brasiliens. Angeblich um eine mögliche Koalition gegen den rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro zu diskutieren. Das ist ein bemerkenswerter Schritt, der zeigt, nicht nur Ex-Präsident Lula polarisiert, sondern auch der aktuelle Präsident Bolsonaro.
Liste: Brasilianische Präsidentinnen und Präsidenten nach der Militärdiktatur
- 1985-1990 José Sarney
- 1990-1992 Fernando Collor de Mello
- 1992-1995 Itamar Franco
- 1995-2003 Fernando Henrique Cardoso
- 2003-2011 Luiz Inácio Lula da Silva
- 2011-2016 Dilma Rousseff
- 2016-2019 Michel Temer
- 2019 – bis jetzt Jair Bolsonaro
Lisa Kuner
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