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„‚Dennis, bist du denn wahnsinnig?‘“
CDU-Politiker ärgert sich über „völligen Lobby-Blödsinn“ – und fordert großen Wurf beim Mindestlohn
Dennis Radtke will Chef des CDU-Arbeitnehmerflügels werden. Im Interview sieht er große politische Versäumnisse – und schildert Lobby-Wahnsinn.
Straßburg – Dennis Radtke macht sich auf, den Posten als soziales Gewissen der CDU zu übernehmen. Von Brüssel aus – und auch mal mit markigen Tönen. Zuletzt kritisierte der EU-Abgeordnete aus dem Ruhrgebiet scharf die Migrationsdebatte seiner Partei und damit indirekt auch Chef Friedrich Merz. Im Herbst will er Vorsitzender des CDU-Arbeitnehmerflügels CDA werden.
Im Interview mit IPPEN.MEDIA legt Radtke nach: Er sieht eine Lücke im Angebot der politischen Mitte, die auch die CDU aufgemacht habe und nun etwa Sahra Wagenknechts BSW zugutekomme. Zugleich ärgert sich der Bochumer vehement über ausufernden Lobbyismus, fehlende Hebel gegen Ausbeutung von Arbeitnehmern. Und er fordert einen großen Wurf für den Mindestlohn.
IPPEN.MEDIA: Herr Radtke, Sie kümmern sich im EU-Parlament um Arbeit und Soziales. Bringt das überhaupt etwas?
Dennis Radtke: Auch in Besuchergruppen sind immer einige erstaunt. Darüber, dass Arbeit und Soziales überhaupt etwas mit der EU zu tun hat und beklagen, für kleine Leute werde aus Brüssel nichts getan. Die meisten denken erstmal an Rente, Pflege, Gesundheit und sagen, ‚darum kümmern sich doch die Mitgliedstaaten’. Aber wir haben zum Beispiel Plattformarbeit reguliert. 28 Millionen Menschen sind auf solchen Plattformen unterwegs sind, davon mindestens fünf Millionen als Scheinselbstständige. Wenn das nicht Gesetzgebung für kleine Leute ist, was dann?
Lobby überschritt Grenzen: „Kollegen sagten: ‚Dennis, bist du denn wahnsinnig?‘“
Da geht es zum Beispiel um Menschen, die für Uber oder Lieferando arbeiten. Das war ein ziemlich kontroverses Thema. Die FDP-Abgeordneten zum Beispiel haben dagegen gestimmt.
In der Tat war das auch bei uns in der Fraktion hochkontrovers und hochemotional. Aber am Ende haben wir uns gegen Widerstände durchgesetzt – obwohl beim Lobbying auch Grenzen überschritten wurden.
Bestimmte Plattformen sind gar nicht selber in Erscheinung getreten, sondern haben Lobbyagenturen und Anwaltskanzleien mit der Drecksarbeit beauftragt. Phasenweise ist das Telefon nicht stillgestanden. Da wurden maßgeschneidert für Abgeordnetenbüros Horrorszenarien entwickelt, was angeblich alles passiert, wenn die Plattformregulierung kommt. Ich habe Anrufe gehabt von Bundestagskollegen, die sagten, ‘Dennis bist du denn wahnsinnig? Wir haben hier die Versicherungswirtschaft auf der Matte stehen, du willst die selbstständigen Handelsvertreter verbieten.’ Das ist alles völliger Blödsinn. Umso stolzer bin ich auf das, was wir da am Ende erreicht haben.
Sie halten auch die Lebenshaltungskosten für ein Kernproblem.
Riesenproblem. Der Punkt ist: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, Migration ist ein wichtiges Thema, auch bei den letzten Wahlen, in Deutschland, in Frankreich, in den Niederlanden. Aber was waren die Themen, die noch wichtiger waren? In Frankreich war es bezahlbarer Wohnraum, Lebenshaltungskosten, noch vor Migration. In Niederlanden genau das Gleiche. Schauen sich die Ergebnisse in Deutschland zur Europawahl an. Die Frage Lebenshaltungskosten, Lebensstandard sichern, soziale Ängste, Abstiegsängste, steht ganz oben auf der Agenda.
„Diese Themen sind ein Treiber für AfD und Wagenknecht“ – Versäumnisse in der „politischen Mitte“
Auch eine Riesenaufgabe. Was kann die Politik tun – und die EU?
Natürlich können wir zum Beispiel keinen europäischen Mietendeckel beschließen. Aber ich finde, wir müssen uns hier mit einigen konkreten Punkten auseinandersetzen. Wir haben europaweit Phänomene wie Airbnb. Ich will nicht Airbnb verbieten. Aber die Leute erwarten darauf eine Antwort! Wir sehen die Stimmung und die Erwartung in der Bevölkerung, das können wir nicht einfach ignorieren. Auch bei der Frage, wie können wir Kosten für Bauen reduzieren – denn wir müssen einfach mehr und günstiger bauen. Selbst wenn das in meiner Partei einige nicht so gerne hören: Diese Themen sind auch einer der Treiber für AfD und Wagenknecht. Das ist doch ganz offenkundig.
Auch die CDU lässt da die Lücke, meinen Sie.
Das BSW ist ja keine klassisch linke Partei, die sehen sich selbst als sozial-konservative Kraft. Ich sage immer, das ist ein bisschen so wie die Ruhrgebiets-SPD der 80er-Jahre. Ein knallhart soziales Profil bis hin zum Sozialpopulistischen, allerdings ohne diese typischen linken Add-ons wie gendergerechte Sprache und ‚Zuwanderung haben wir eigentlich noch zu wenig’, überspitzt gesagt. Man sieht ja, dafür gibt es einen Markt, das verfängt. Im Osten noch stärker als im Westen. Darauf muss die politische Mitte reagieren. Ganz offenkundig gibt es in unserer Gesellschaft Probleme und Herausforderungen, die seit Jahren nicht korrekt adressiert werden. Und da zeige ich jetzt gar nicht mit dem Finger auf die Ampel, damit zeige ich auf uns selbst, auf die gesamte politische Mitte.
Ein Streitthema ist auch der Mindestlohn.
Den Mindestlohn auf europäischer Ebene haben wir in der letzten Periode auf den Weg gebracht. Herzstück ist die Zielsetzung 80 Prozent Tarifbindung. In Deutschland liegt die Tarifbindung bei 50 Prozent. Im Osten sind wir schon weit drunter. Ohne öffentlichen Dienst wären wir bundesweit bei 30 Prozent. Das sind dramatische Zahlen, das heißt, da muss auch in Deutschland was passieren. Die Ampel muss die Richtlinie eigentlich bis Ende November in nationales Recht umsetzen – und Stand heute ist da nichts passiert. Bei der Mindestlohnkommission hat die Politik eingegriffen, um den Mindestlohn auf 12 Euro zu hieven. So geht es nicht weiter.
Mindestlohn: CDU-Sozialer Radtke kritisiert SPD – und fordert andere Lösung als eigene Parteispitze
Und nun?
Die letzte Erhöhung ist gegen den Willen der Gewerkschaften durchgesetzt worden. Deswegen erwarte ich eine politische Debatte darüber, auch in der Bundesregierung, wie man sich denn die Zukunft der Mindestlohnkommission vorstellt. Es macht keinen Sinn, das in jedem Bundestagswahlkampf neu zu diskutieren. Jetzt spricht die SPD von 15 Euro – und wenn wir an der Systematik nichts verändern, dann kann ich Ihnen auch schon die Wahlplakate der SPD für 2029 zeigen: Da steht dann 18 oder 19 Euro drauf. Das ist doch witzlos. Auch zur Tarifbindung muss die Bundesregierung jetzt endlich mal einen Vorschlag machen. Aber ich habe den Eindruck, das ist einer der unzähligen Punkte, wo die Meinungen in der Ampel-Koalition Lichtjahre auseinanderliegen.
Vorschläge darf auch die Opposition machen – was wäre denn Ihrer?
Es gibt ja schon Vorschläge, was bei einem Mindestlohn zu berücksichtigen ist, die Kaufkraftentwicklung etwa. Und es gibt Empfehlungen in Punkten, für die wir auf europäischer Ebene nichts festlegen können. Unsere lautet 60 Prozent Medianlohn als Orientierung für den Mindestlohn. Ich halte sehr viel von so einer Indexlösung, denn das würde beitragen, den Mindestlohn endlich wieder zu entpolitisieren. Das wäre eine Aufgabe, die das Statistische Bundesamt übernehmen kann. Dann müssen wir auch nicht in Zukunft in jedem Bundestagswahlkampf neu darüber streiten. Ich halte 60 Prozent Median für vertretbar – aber wenn jemand einen Vorschlag für einen anderen Index hat, wäre ich auch offen. Es muss jetzt nur endlich mal was passieren.