Kampf gegen Multiple Sklerose
MS-Warriors in Waldkraiburg: So hilft Klettern gegen die Krankheit
Wer an Multipler Sklerose (MS) erkrankt, erlebt, dass die körperlichen Kräfte weniger werden. Weil Klettern der Krankheit entgegenwirkt, hat Hans-Jürgen Braun eine Gruppe gegründet, die sich jeden Sonntag in Waldkraiburg an die Kletterwand wagt.
Waldkraiburg – Adi Palme schafft es, seinen linken Fuß auf den nächsten höher gelegenen, pinken Klettergriff zu stellen. Weil Hans-Jürgen Braun mit seiner flachen Hand von unten gegen seine Fußfläche drückt. Und weil sich Klettertrainer Silvian Hiemesch am Boden reinhängt und das Seil zur Sicherung straff hält. Palme hat MS und ist auf einen Rollstuhl angewiesen, Laufen fällt ihm schwer.
Auf etwa sieben Metern Höhe, ein Drittel der Kletterroute liegt noch vor ihm, geht nichts mehr – seine Kraft für heute ist aufgebraucht. Hiemesch lässt Palme langsam zurück auf den Boden. Dort steht schon ein Stuhl bereit, damit er sich setzen kann. „Adi, das war mega stark!“, freut sich Braun, ebenfalls zurück auf dem Boden, mit seinem Kletterpartner.
„Dass Klettern mit MS überhaupt funktioniert, war für mich kaum denkbar“
Seit Mitte April trifft sich eine Gruppe MS-Kranker sonntags im DAV Kletterzentrum in Waldkraiburg. „Wer Zeit und Energie hat, kommt vorbei“, sagt Braun. Er hat die Gruppe mit dem Namen „MS Warrior“ – das heißt „MS Krieger“ – ins Leben gerufen. Während seiner Reha im März 2022 kletterte er zum ersten Mal. „Durch die MS wird es allweil weniger, was noch geht – dass Klettern da überhaupt funktioniert, war für mich kaum denkbar“, erinnert er sich. Die Autoimmunerkrankung MS führt häufig zu Lähmungen und in der Folge Unsicherheiten beim Gehen oder Greifen. Die Abkürzung bedeutet jedoch nicht Muskelschwund, noch sind die Symptome bei allen Betroffenen gleich – vielmehr wird die Erkrankung als „Krankheit mit den 1000 Gesichtern“ bezeichnet.
Schon den Klettergurt anzuziehen, ist herausfordernd
Für Palme ist es schon eine Herausforderung, den Klettergurt anzuziehen. Leicht nach vorne gebeugt steht er aus seinem Rollstuhl auf. Ein anderes Gruppenmitglied hilft ihm, den Gurt an- und festzuziehen. Doch so ganz passt es nicht, eine Schlaufe ist verdreht – also nochmal zurück in den Rollstuhl und von vorne. „Da bin ich ja schon fix und fertig, bis ich den Gurt richtig an hab“, scherzt Palme. „Das ist wurscht, wir bringen dich schon nauf“, erwidert Braun.
Braun und Hiemesch treffen sich seit einiger Zeit regelmäßig. Nach einigen gemeinsamen Klettertagen hatten sie nahezu gleichzeitig die Idee, auch anderen das Klettern zu ermöglichen. Seit gut einem halben Jahr gibt es nun die Gruppe „MS Warrior“, die als Untergruppe an die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) angeschlossen ist.
Eintrittsgelder durch Spenden finanziert
Die Eintrittsgelder für die Kletterhalle werden durch Spenden finanziert. In der Regel sind es fünf bis sieben Personen aus den Landkreisen Mühldorf am Inn, Wasserburg am Inn und Erding, die sich am Sonntagmorgen in Waldkraiburg treffen. Neben regelmäßigen Kletterern wie Palme gibt es immer wieder MS-Erkrankte, die sich das erstmal nur ansehen möchten. „Aber ehe sie sich versehen, haben sie dann doch den Klettergurt an und sind an der Wand“, erzählt Braun mit einem Schmunzeln.
Unter Ächzen und Stöhnen bezwingt Braun die Kletterroute
Er selbst freut sich auf die sonntäglichen Treffen, diesmal fühlt er sich allerdings etwas kraftlos. Trotzdem hat Trainer Hiemesch für Braun eine Kletterroute mit schwarzen Griffen an der Außenwand der Halle ausgewählt – keine leichte Tour . Zögerlich fängt er an, doch Griff für Griff schafft er es weiter nach oben. „Fünf Meter hast du schon!“, ermutigt Hiemesch von unten.
16 Meter hoch sind die Kletterwände, die bis unter die Decke reichen. Braun kämpft sich nach oben. Seine Beine zittern, er hat Mühe, sie an der Wand zu halten. Verhärtete und steife Muskeln, auch Spastik genannt, erschweren die Bewegungen. „Diskutier nochmal mit deinem Fuß“, feuert Hiemesch an. Unter Ächzen und Stöhnen schafft es Braun weiter – bis zum obersten Griff.
Vor knapp einem Jahr dachte Braun, dass er bald im Rollstuhl sitzt
„Toll Hans!“, jubelt die Gruppe unten, begleitet von lautem Applaus. Als Braun wieder mit beiden Beinen am Boden steht, lehnt er seinen Kopf gegen die Kletterwand. Langsam und wackelig entfernt er sich ein paar Meter und legt sich ins Gras. „Ich bin fix und fertig, das war meine erste Bahn mit dieser Schwierigkeit“, sagt er. Vor einem Dreivierteljahr sei er nach einer vergleichbaren Anstrengung runtergekommen und umgefallen, musste nach dem Klettern beim Gehen gestützt werden. „Damals war ich nur noch mit Stöcken unterwegs.“ Viele hätten ihm gesagt, er sei der nächste, der im Rollstuhl sitze.
Welche Fähigkeiten MS-Erkrankte beim Klettern trainieren
„Seit ich klettere, laufe ich anders“, erzählt der 51-Jährige. An Klettertagen habe er abends zudem keine Spastik. Und nicht nur Braun geht es so: „Die Gruppe macht mir brutalen Spaß, weil ich sehe, dass die anderen auch das erleben, was ich erlebe“, sagt er. Sie alle wissen, was durch MS wegbrechen kann: Wie das Gehen auf einmal schwer wird und die Energiereserven begrenzt. „Man muss schon vorsichtig sein, Klettern ist nicht in jedem Fall auch Therapie. Aber beim Hans ist es definitv so.“
Kraft, Koordination, Ausdauer und Gleichgewicht werden beim Klettern verbessert, schreibt die DMSG über den Sport. Gleichzeitig sei Klettern so vielseitig, dass jede und jeder MS-Erkrankte gefördert werden könne. Wie bei jeder Sportart sei es wichtig, regelmäßig zu trainieren.
Auch Palme klettert regelmäßig und kann Erfolge feiern
Wieder ein Sonntag, zwei Wochen später. Adi Palme hat einen guten Tag, freut sich darauf, sich nochmal an die pinken und orangen Griffe zu wagen. Ein Tandem-Partner begleitet ihn wie immer: Hilft mit den wackeligen Füßen, setzt sie wieder auf den Griff, wenn sie abrutschen. Diesmal lässt sich Palme nicht unterkriegen. Langsam zieht er sich Griff für Griff weiter nach oben – bis zum Ende der Übungsroute in etwa zehn Metern Höhe. Applaus der Gruppe und anderer Kletterer füllt die Halle. Als Palme sich unten angekommen zurück in seinen Rollstuhl setzt, ist er erschöpft aber glücklich.


