Ein Jahr Krieg in der Ukraine
„Meine Familie braucht mich”: Spurensuche bei Geflüchteten und einer Helferin aus Aschau
Seit einem Jahr herrscht Krieg in der Ukraine. Viele sind geflohen - unter anderem nach Aschau. Was hat das Jahr mit Flüchtlingen und Helfern gemacht?
Aschau / Waldkraiburg - Wenn eine für uns Westdeutsche ganz harmlose Frage zu viel wird, wenn so eine Frage, auch wenn sie ganz vorsichtig und sanft gestellt wurde, das Gespräch mit einem Schlag zum Erliegen bringt, wenn die Antwort Schweigen und Tränen sind, dann ist der Krieg in der Ukraine plötzlich mitten unter uns.
„Wie geht es ihrer Mutter?“ - Plötzlich schweigt Irina Tschyrkova (55), schluckt und ihr Kopf sinkt leicht nach vorne. Sie fährt unter ihre Brille und fasst sich an die Augen, versucht ihre Tränen zurückzuhalten. Plötzlich gibt es die warme Frühlingssonne nicht mehr, nur noch die Trennung und den Schmerz.
Mutter und Tochter: 1.400 Kilometer voneinander getrennt
Irinas Mutter lebt noch, sie haben noch Kontakt, aber sie sind gut 1.400 Kilometer Luftlinie getrennt. Irina lebt seit einem knappen Jahr im Landkreis Mühldorf - zunächst in Aschau, seit einer Woche in einer eigenen kleinen Wohnung in Waldkraiburg; ihre Mutter ist weiterhin in Odessa, der Stadt, aus der Irina geflohen ist. Ihre Mutter will nicht weg, will nicht in die Sicherheit, in die Fremde. Das schmerzt.
Trotzdem baut sich Irina Tschyrkova seit einem Jahr eine neue Existenz auf: Sie besucht an vier Tagen in der Woche einen Deutsch-Kurs, sie verdient seit April ihr eigenes Geld: zunächst als Reinigungskraft im Kraiburger Altenheim St. Nikolaus, seit Juli wieder in ihrem erlernten Beruf als Buchhalterin bei einem Waldkraiburger Unternehmen. „Meine Chefin hatte den Artikel über mich gelesen und mich angesprochen. Inzwischen habe ich einen unbefristeten Vertrag“, freut sie sich.
Auf den eigenen Beinen stehen und sich ein neues Leben aufbauen
Irina Tschyrkova steht auf eigenen Beinen, organisiert ihr neues Leben in dem fremden Land. „Sie muss sich um alles selber kümmern, wo anderen, die keine Arbeit haben, geholfen wird“, sagt Olena Preis, eine Flüchtlingshelferin aus Aschau.
Tschyrkova beschwert sich nicht. Viele ihrer Freunde und Bekannte hätten es in Odessa ungleich schwerer: „Es gibt keine Arbeit. Strom und Wasser gibt es nur zwei Stunden am Tag, und die Lebensmittel sind viel teurer geworden.“
„Meine Familie braucht mich auch“
Olena Preis ist seit knapp einem Jahr an der Seite von Irina. Preis kommt ursprünglich aus Odessa und lebt seit zehn Jahren mit ihrem Mann in Aschau. Als der Krieg ausbrach, war sie zunächst für ihre erste Tochter die Anlaufstelle, wenig später für 30 weitere Landsleute. Olena Preis half ihnen nach der Arbeit und am Wochenende, wo sie nur konnte: Unterkunft und Kleidung besorgen, Behördengänge, Formulare ausfüllen und vieles, vieles mehr.
Das ging ein halbes Jahr gut, dann merkte sie: „Meine Familie braucht mich auch.“ Denn auch ihre Familie ist angewachsen. Bis vor einem Jahr lebte sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter (15) in Aschau. Dann kamen ihre Tochter (34), die beiden Enkel und ihre Mutter aus Odessa. Sie alle wohnen jetzt in Aschau in eigenen Wohnungen - aber Olena Preis ist das Zentrum, täglich gefragt und eingespannt, fährt ihre Mutter zum Arzt, holt die Enkel ab. „Ich habe jetzt eine große Familie“
Sie hat sich inzwischen aus der Flüchtlingsarbeit zurückgezogen - ist ihr aber immer noch verbunden und dankbar für die Hilfe, die aus der Bevölkerung und der Verwaltung kam und kommt.
„Ich will nach Hause“ - nach Odessa
Olenas Mutter kann kein Deutsch, braucht ihre Tochter umso mehr, bekommt alle Hilfe und sagt doch immer wieder: „Ich will zurück in meine Wohnung.“ Sie meint: Odessa. Ihr achtjähriger Enkel besucht seit einem Jahr den Kindergarten, ist integriert, aber auch er sagt immer: „Ich will nach Hause.“ Nach Odessa. Für den zweiten Enkel (12) ist das kein Thema: Er spielt Fußball und hat Freunde.
Das sind keine Einzelfälle. Eugene Timchenko (37), der vor gut einem Jahr bei Atoma in Waldkraiburg eine Arbeit gefunden hatte, ist wieder weg. „Er war wirklich gut“, erzählt Personalleiterin Andrea Jost. „Doch dann hat er leider gekündigt. Wir wissen nicht, warum. Schade, wir hätten ihn gerne behalten, er hatte Potenzial.“
„Frauen haben es einfacher“
Viele sind entwurzelt, rast- und haltlos. Oxana Batyska (50), die zeitgleich mit Irina Tschyrkova in Waldwinkel wohnte und im Kraiburger Altenheim gearbeitet hat, ist wieder in der Ukraine. Eine andere Familie, erzählt Olena Preis, zog weiter nach Kanada, kam aber nach drei Monaten wieder zurück und hat sich inzwischen in Aschau eingerichtet. Scheinbar. Denn der Mann möchte weiterziehen, zurück in die Ukraine, um zu kämpfen. „Frauen haben es einfacher“, meint Olena Preis, „die sorgen sich um ihre Familie und Kinder.“ Die Frauen bauen gleich Nester. „Für die Männer ist es schwerer.“
Ein Jahr Krieg in der Ukraine; ein Ende ist nicht in Sicht. „In Syrien wird seit sechs Jahren gekämpft“, sagt Olena Preis. Für sie hat Russland aber schon verloren. Die gut ausgebildeten oder die kritischen Russen hätten das Land verlassen oder sitzen im Gefängnis: „Russland hat sich in dem einen Jahr zerstört.“
