Leben nach Corona
„Ich bin unheilbar krank“, sagt Post-Covid-Patientin Annette Genzinger (50) und lacht
Corona hat das Leben von Annette Genzinger aus der Bahn geworfen: Sie hat das Erschöpfungs-Syndrom ME/CFS. Nichts ist mehr, wie es war. So geht sie damit um, das treibt sie um.
Polling – „Ich bin unheilbar krank“, sagt Annette Genzinger und lacht. Es ist ein Lachen, das nicht verbittert, sondern ehrlich klingt. Sie hat eine Krankheit, die ihr Leben auf den Kopf gestellt hat, die aber nicht zu sehen ist. Annette Genzinger hat Post-Covid, genauer gesagt das schwere Erschöpfungs- und Belastungssyndrom ME/CFS (siehe Kasten), das oft zu einer Behinderung führt und bei ihr in Schüben auftritt.
Auf den ersten Blick ist der 50-Jährigen nichts anzusehen und anzumerken. Sie geht arbeiten, lacht, ist gut gelaunt. Sie redet viel, ist interessiert, engagiert. Trotzdem sagt sie: „Von einem Moment auf den anderen hat sich alles verändert. Corona hat mich komplett aus dem Leben gerissen. Mein ganzer Lebensinhalt hat sich auf einmal in Luft aufgelöst.“
„Ich war eine Powerfrau“
Vor Corona hat sie in ihrer Freizeit auf Hochzeiten bedient, im Chor gesungen, ist gereist, hatte viele Freunde, wollte sogar bauen. „Ich war eine Powerfrau“, erzählt sie. Jetzt ist sie nur noch erschöpft, kann dann fast nicht mehr alleine von der Couch aufstehen, das Treppensteigen ist eine Qual. Alles wegen Corona.
2020 hatte sie vermutlich ihre erste Corona-Infektion, wurde aber nie getestet. „Ich kam aus keinem Risikogebiet.“
Am 26. März 2021 bekam sie ihre erste Impfung. Ihr Körper reagierte mit Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schüttelfrost, Gelenk- und Muskelschmerzen. Sie hatte einen Würgebrechhusten mit starken Schmerzen. „Zum Schluss habe ich Blut gespuckt“, sagt Genzinger. Es folgten eine zweite Impfung und 2022 eine zweite gesicherte Corona-Infektion. „Davon habe ich mich eigentlich nie wieder komplett erholt.“ Seitdem ist Genzinger körperlich nicht mehr belastbar. „Ich war nur noch müde, habe total viel geschlafen und ich kann mich nicht mehr schmerzfrei bewegen.“
Langer, schmerzhafter Weg bis zur Diagnose
Bis zur Post-Covid-Diagnose im Juni 2023 war es ein schmerzhafter Weg, weil ME/CFS nur über den Ausschluss anderer Krankheiten festzustellen ist. Das bedeutete viele, sehr viele Termine bei allen möglichen Ärzten: Neurologe, Psychologe, Rheumatologe, Orthopäde, ab ins MRT, Blick auf die Hormone, das Herz, die Lunge. Ein Weg, der auch mit Unglauben gepflastert ist, erzählt Genzinger: „Man wird oft nicht ganz so ernst genommen.“
Eine große, kaum erforschte Krankheit
Die Myalgische Enzephalomyelitis / das Chronische Fatigue Syndrom (ME/CFS) ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die oft zu einer schweren körperlichen Behinderung führt. Weltweit sind etwa 17 Millionen Menschen betroffen. Vor Corona gab es in Deutschland geschätzt 250.000 Betroffene. Experten schätzen, dass sich diese Zahl durch Corona verdoppelt hat. MF/CFS ist eine eigenständige Krankheit und nicht mit Fatigue zu verwechseln. Die Krankheit ist zwar schon länger bekannt, wird auch bereits erforscht, aber heilbar ist sie bis heute nicht.
(Quelle: www.mecfs.de)
Die Diagnose war zunächst eine Erleichterung. „Jetzt habe ich endlich was in der Hand.“ Seitdem lebt sie von Schub zu Schub. Jeder Schub ist ein körperlicher Systemabsturz, „verschlechtert meine Zukunftsaussichten“, sagt Genzinger ganz nüchtern. „Es kann sein, dass ich vielleicht irgendwann im Rollstuhl sitze oder mit dem Rollator rumgehe.“
Reizüberflutung kann einen weiteren Schub auslösen
„Alles, was eine Reizüberflutung ist, kann einen Schub auslösen“, erklärt Genzinger. Stress in der Arbeit, eine Zugfahrt, eine Autofahrt oder alltägliche Gerüche. „Es hängt von der Tagesverfassung ab.“
Sich verabreden, einen Tisch reservieren, einen Kinobesuch planen – das geht nicht mehr. „Wenn ich einen schlechten Tag habe, dann schaffe ich das nicht mehr.“ Wenn andere nachmittags im Garten arbeiten oder im Biergarten sitzen, „schlafe ich erstmal zwei, drei Stunden, weil ich so erschöpft bin“.
Auch Gespräche und Telefonate können einen Schub auslösen. Dann sei alles benebelt und verschwommen. „Wenn jemand mit mir spricht, dann kommt das bei mir gar nicht mehr so richtig durch. Dann bin ich wie weggetreten.“
„Ich überspiele es gut“
Sie arbeitet am Amtsgericht in Mühldorf. Aber nicht mehr voll als Wachtmeisterin, die auf Sicherheit und Ordnung schaut, sondern im Büro, „wo ich meine Energien besser einteilen kann“. Ihr Chef und ihre Kollegen hätten viel Verständnis, „auch wenn sie es vielleicht nicht immer nachvollziehen können“, auch weil sie sich ihre Krankheit möglichst nicht anmerken lässt. „Ich überspiele es gut.“
„Ich habe von meiner Mama gelernt, zu kämpfen und wieder aufzustehen“, sagt Genzinger. Deshalb werde sie oft nicht ernst genommen, „weil ich oft lache oder scherze“. Dabei sitze auch sie auf der Couch und heule: „Das kann doch nicht der Alltag sein.“
Angst, alleine da zu stehen
„Es ist peinlich, unangenehm und fühlt sich blöd an“, sagt sie im Laufe des Gesprächs. Sie ist 50, aber ihre 83-jährige Mutter sei fitter als sie. Ihre Mutter, ihre beiden Kinder, ihr Lebensgefährte und dessen Familien würden ihr Halt geben. „Das ist ja die Hauptangst, dass man allein dasteht.“ Freunde? Sie antwortet ohne Bitterkeit oder Vorwurf: „Ich habe fast keine mehr, weil ich es einfach körperlich nicht mehr schaffe.“
Heilen lässt sich das Erschöpfungssyndrom nicht, sagt Genzinger. Nötige Erleichterungen und Hilfen gebe es aber auch nicht. „Was man mit Post-Covid bis heute bekommt, ist zu wenig“, sagt Genzinger.
„Uns lässt man komplett hängen“
Es gebe Therapien, aber die müsste sie meistens selber bezahlen. Sie bräuchte Alltagserleichterungen, auf dem Weg zu Ärzten eine Begleitperson. Doch die nötige hohe Einstufung als Schwerbehinderte bekomme man nicht so leicht. Auch nicht die Erlaubnis, auf einem Behindertenparkplatz zu parken. „Wenn ich einen schlechten Tag habe, ist Einkaufen eine Belastung ohne Ende. Wenn ich dann vom Parkplatz beim Eingang reinmaschiere, bin ich schon fertig und kann gleich wieder umdrehen und heimfahren.“
„Auch ein normaler Arztbesuch stresst mich psychisch und körperlich.“ Die Krankenkasse verlange aber Kontrollbesuche. „Aber genau das, was man von uns verlangt, triggert uns“, sagt Genzinger im Namen aller Post-Covid-Patienten. Egal ob Berufsunfähigkeit, Reha, Therapien oder Schwerbehinderung, Genzinger hat dafür ein Urteil: „Uns lässt man eigentlich komplett hängen.“
Lebenserwartung ist verkürzt
Mit der Krankheit hat sie sich arrangiert, auch mit der ständigen Angst bei Erkältungs- und Grippewellen. Wenn es sie erwischt, „dann knockt mich das wieder komplett aus. Unsere Lebenserwartung ist definitiv verkürzt.“
Was ihr neben ihrer Familie, ihrem Freund und den Freunden hilft: „Ich habe mein Leben gelebt. Ich habe viel erlebt und gemacht.“ Trotzdem: „Zu akzeptieren, dass das nicht mehr ist, ist schwierig.“
„Ich hoffe halt eigentlich immer“
Trotzdem geht sie weiter in die Arbeit, möchte auf die Krankheit aufmerksam machen: „Ich hoffe halt eigentlich immer. Ich hoffe halt immer, dass sich irgendwas ändern könnte. Ich würde mir wünschen, dass die Krankheit mehr anerkannt wird und die Menschen mehr informiert werden. Ich glaube, die meisten verzweifeln daran, weil die Krankheit einfach unterschätzt wird.“