Erinnerung an das Ende des Nazi-Lagers
Baby Hannah und die verschwiegene Geburt: Gedenkfeier im ehemaligen KZ Mühldorf
Mit bewegenden Beiträgen erinnern Überlebende und Angehörige an die Gräueltaten im größten Außenlager des KZ Dachau im Mühldorfer Hart. Unter ihnen Lynn Farbman, die dort in den letzten Kriegstagen geboren wurde.
Mühldorf – 80 Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa vergangen, vor 80 Jahren wurde auch das Konzentrationslager im Mühldorfer Hart, das größte Außenlager des KZ Dachau von den Amerikanern befreit. Hier schufteten unter den unmenschlichsten Bedingungen versklavte Zwangsarbeiter, vor allem Juden. Es sollte dort eine Flugzeugfabrik gebaut werden.
In Viehwagons in die Freiheit oder den Tod
Das Gedenken daran stand im Mittelpunkt der Feier unter dem Bunkerbogen. Auf Einladung des Vereins „Für das Erinnern“ gedachten viele Teilnehmer dem Ende des KZ Mühldorf. „Im April 1945 starteten sogenannte Todeszüge mit den KZ-Häftlingen in Bayern, auch hier in Mühldorf. In Viehwaggons wurden diese armen Menschen gepfercht, es gab kein Essen, kein Trinken, keinen Platz für die Notdurft. Viele Häftlinge starben bei diesen Transporten“, sagte Langstein.
Landrat Max Heimerl zitierte den ehemaligen Lagerinsassen Max Mannheimer: „Ich habe Auschwitz verlassen, aber Auschwitz hat mich nicht verlassen“. Der Landrat weiter: „Wir dürfen das Geschehene nicht vergessen, das sind wir den Opfern schuldig, sonst würden sie nochmal ausgelöscht. Besonders danke ich dafür dem ‚Verein für das Erinnern‘ und seinem Vorsitzenden Franz Langstein, die sich seit 25 Jahren darum kümmern, das nichts, was damals geschehen ist, vergessen wird – durch Gedenkfeiern wie heute, durch Aufklärung in Schulen und durch Kontakte zu Überlebenden“.
Dominic Boueilh , Vorsitzender des Internationalen Dachaukomitees fragte: „Wie kann man es sich in diesem friedlichen Waldstück vorstellen, dass Gefangene in Hütten vor sich hin vegetierten und unter den unmenschlichsten Bedingungen todbringende Zwangsarbeit verrichten mussten? Im Durchschnitt überlebte ein Häftling nur 80 Tage. Man sieht hier das Ausmaß und den Wahnsinn des Nazi-Regimes“.
Der französische Generalkonsul Alexandre Vulic sagte: „Die Nazis haben das jüdische Volk und andere Gruppen systematisch verfolgt, unterdrückt und ausgerottet, zum Beispiel durch Arbeit in der Rüstungsindustrie wie hier. Die Zahl der Überlebenden wird kleiner, dennoch dürfen wir nicht aufhören uns zu erinnern“.
Der Mann, der das Baby rettete
Mit Lawrence Kaufmann kam die Tochter des Gefangenen, der im Januar 1945 von der Geburt eines Babys hörte: Dieses Mädchen wurde als ‚Baby Hannah‘ bekannt, Kaufmanns Vater versteckte Hannah zusammen mit anderen Häftlingen. Das Baby überlebte. Kaufmann beschrieb ihren Vater Sylvain als einen „Experten im Überleben: Seine robuste Kondition, sein Mut, das Beherrschen der deutschen Sprache und der Glaube an Gott machten ihn dazu.“
Lynn Farbman, „Baby Hannah“, steht auch als Erwachsene noch unter dem Eindruck der letzten KZ-Tage. Sie erzählte, dass sie erst mit 70 Jahren erfahren habe, dass ihr Vater nicht ihr leiblicher Vater gesesen ist: „Ein Schock. Meine Mutter war bereits schwanger in das Außenlager Mühldorf gekommen. Ich war im Lager das einzige Baby, das überlebte. Vor mir war ein Junge ertränkt worden.“ Ihre Eltern hätten ihr immer erzählt, sie sei 1946 geboren worden.
Häfltlings-Enkelin Laurence Steinmetz zitierte Elie Wiesel: „Tote zu vergessen heißt, sie ein zweites Mal zu töten. Ich rufe die europäischen Politiker auf, auch den nächsten Generationen zu vermitteln, was ‚Nie wieder!‘ bedeutet. Mein Großvater starb im Juli 2023 mit 101 Jahren, aber er hat von diesem Ort der Erinnerung erfahren und war davon sehr berührt“.
Judith Faessler, die Enkelin von Max Mannheimer stellte sich ganz indie Tradition ihres Großvaters, der lange für eine Gedenkstätte in Mühldorf gekämpft hat: „Wir erinnern uns an das Geschehene, um uns vor solchen Gräueltaten zu schützen. Denn ohne Erinnerung können wir weder das Vergangene noch die Gegenwart verstehen. Aber wie lange können wir uns noch erinnern? Wir müssen aus der Erinnerung Geschichten weben“.
Die Hölle in der Hölle
Als letzter rief Erich Finsches, einer der letzten Überlebenden des Lagers Mühldorf dazu auf, den Anfängen zu wehren und nicht einer neuen Generation zu vertrauen, die sich für besser hält, aber nur „hirnverbrannt“ sei: „Ich habe das hier alles miterlebt, es war die Hölle in der Hölle.“
Am Ende der feierlichen Veranstaltung konnten noch – getreu jüdischem Brauch – Steine auf eine Gedenk-Stele gelegt werden. das Ensemble Freudenstein-Hofmann begleitete das Gedenken: Nach einem jüdischen Musikstück folgten ein Klagelied marokkanischer Juden, eine Sarabande von Johann Sebastian Bach und eine Eigenkomposition von Claus Freudenstein.
