Fünf Jahre Multikrise für die deutsche Chemieindustrie
Die Achterbahnfahrt der Chemieindustrie: Herausforderungen und Chancen am Standort Gendorf
Die deutsche Chemieindustrie befindet sich seit fünf Jahren in einer Multikrise: Innerhalb der letzten zwei Jahre ging die Produktion um über 20 Prozent zurück und die hohen Strompreise machen den Standort Deutschland immer unattraktiver. Dr. Christoph von Reden spricht von einer schleichenden Deindustrialisierung, die bald für jeden spürbar sein wird.
Burgkirchen – Am 25. April fand in Burgkirchen das 46. Nachbarschaftsgespräch der Chemieindustrie am Standort Gendorf statt. Rund 200 Besucher, darunter zahlreiche Vertreter der Unternehmen und Mandatsträger aus der Politik, waren im Bürgersaal anwesend. Bereits in der ersten Präsentation von Dr. Christoph von Reden, dem Geschäftsleiter der InfraServ Gendorf, wurden die Dinge beim Namen genannt. Er hieß das Publikum herzlich willkommen im fünften Jahr der Multikrise für die Industrie. Er betonte, die Zeit der Schönfärberei sei vorbei, es sei bereits zehn nach zwölf und eine Entwicklung eingetreten, die zwar „noch nicht weh tut“, aber bald zu spüren sein werde.
„Es herrscht große Nervosität“
„Allein im Jahr 2023 sank die Produktion der deutschen Chemieindustrie um zehn Prozent – im zweiten Jahr in Folge“, so Reden. Denn bereits im Jahr 2022 war es zu einem Rückgang um 12,2 Prozent gekommen. „Das können wir nur eine gewisse Zeit durchhalten“, kündigte von Reden an. Es herrsche „eine große Nervosität“ und man wisse nicht, wie lange man die Beschäftigungszahlen so halten könne, wie sie aktuell noch sind. Eine Trendwende sei ebenso nicht erkennbar.
Allein am Standort Gendorf ging das Produktionsvolumen zwischen 2021 und Ende 2023 um 400.000 Tonnen zurück. Das bedeute laut Dr. von Reden aber nicht, dass weltweit die Produktion zurückgegangen wäre. „Es wird bloß nicht mehr in Gendorf oder in Deutschland produziert“, so von Reden. Das Bruttoinlandsprodukt der USA, das im Jahr 2011 noch unter jenem der EU28 lag, sei inzwischen um 50 Prozent größer als das der EU28. Laut von Reden sei dies ein Anzeichen für die schleichende Deindustrialisierung in Deutschland.
Verlieren Investoren das Vertrauen in Deutschland
Einer der Hauptgründe dafür seien die hohen Energiekosten am Standort Deutschland. Der stromintensiven Chemieindustrie werde es erschwert, wettbewerbsfähig zu bleiben. Dass aktuell die Strompreise zurückgegangen seien, deute aber ganz und gar nicht darauf hin, dass „alles wieder normal“ werde. „20 Prozent weniger Produktionsvolumen bedeutet auch weniger Stromnachfrage. Und sinkt die Nachfrage, sinken auch die Preise“, so Dr. von Reden.
Dass wegen mangelnder Nachfrage Kohlekraftwerke vom Netz genommen werden, sei eine ebenso bedenkliche Entwicklung. Springe die Konjunktur in Deutschland wieder an, dann könnes dies dazu führen, dass die Strompreise rasch wieder nach oben klettern. Damit würde die Konjunktur sofort wieder „abgewürgt“. Vor diesem Hintergrund sei es inzwischen schwer geworden, Investoren zu finden, die dem Standort Vertrauen entgegenbringen. „Allein am Standort Gendorf geht es um mehrere hundert Millionen Euro“, so von Reden. „Da muss man daran glauben, dass es in Deutschland funktionieren wird.“
Hinzu komme noch die bevorstehende Stillegung der Dyneon bis Ende 2025. Dies führe dazu, dass 20 Prozent der Basiskosten für den Chemiepark, welche vorher von der Dyneon bezahlt wurden, von den übrigbleibenden Unternehmen weiter getragen werden müssen. Als strategischer Fahrplan stehe im Rahmen des Effizienzsteigerungsprogramms „Horizon 2030“ eine „Verschlankung“ an: Man muss wieder wettbewerbsfähiger werden.
Hoffnung H2-Reallabor
Etwas positivere Aussichten machte der Vortrag von Dr. Christian Hackl, dem Geschäftsführer des H2-Reallabors Burghausen. Mit dem Ziel, die Transformation der chemischen Industrie hin zu einer nachhaltigen und klimaneutralen und wasserstoffbasierten Chemie voranzutreiben, wolle man mit dem H2-Reallabor die technische Marktführerschaft in Deutschland erlangen.
Für die anwendungsorientierte Grundlagenforschung des H2-Reallabors, deren Erkenntnisse schnell in die Praxis transferiert werden sollen, arbeiten 35 Partner aus Wissenschaft und Wirtschaft zusammen – und zwar ohne den Neubau eines „Labors“, wie man meinen könnte. Für das Reallabor wird nämlich bereits vorhandene Infrastruktur genutzt.