Massive Probleme seit Anfang des Jahres
„1000 unbezahlte Rechnungen“: Verwaltung von Reichertsheim und Kirchdorf versinkt im Chaos
„1000 unbezahlte Rechnungen“, unbearbeitete Anträge, ein nicht funktionierender Haushalt: In der Verwaltungsgemeinschaft Reichertsheim-Kirchdorf herrscht Chaos. Warum kein Weg an einem „Pseudo“-Etat vorbeiführte und wie die beiden Kommunen wieder handlungsfähig werden sollen.
Reichertsheim/Kirchdorf – Die Verwaltungsgemeinschaft (VG) Reichertsheim-Kirchdorf: Das sind zwei kleine, ländlich-ruhige Kommunen im Haager Land – möchte man meinen. Von Streit war bisher kaum etwas zu hören. Man könnte fast sagen: Hier ist die Welt noch in Ordnung. In den jüngsten Gemeinderatssitzungen ist die Bombe jedoch geplatzt: Es herrscht Chaos in der VG.
Von „1.000 unbezahlten Rechnungen“ war in der aktuellen öffentlichen Sitzung des Kirchdorfer Gemeinderats die Rede. Seit Mai sollen keine Zahlungen mehr getätigt worden sein, hieß es. Gewerbesteuerbescheide seien zwischen Werbebriefen gefunden und Vorauszahlungen teilweise eingegangen, aber nicht im System verbucht worden. In der jüngsten öffentlichen Sitzung im Reichertsheimer Rat sah es ähnlich aus: Dort wurde berichtet, Bürger hätten monatelang auf Zahlungen warten müssen. Es wurde von Anträgen, beispielsweise von der Feuerwehr, gesprochen, die eingereicht, aber nie bearbeitet worden seien. Auch von nicht-generierten Gewerbesteuereinnahmen war die Rede.
Der Grund: Massive personelle Probleme hätten dafür gesorgt, dass die Verwaltung von Kirchdorf und Reichertsheim in 2023 kaum handlungsfähig gewesen sei. Nun musste sogar eine Beratungsfirma eingeschaltet werden, die wichtige Stellen in der VG kommissarisch besetzt hat.
Jürgen Seifert, ehemaliger Bürgermeister in Prien und inzwischen Inhaber von hjs-consulting, als Unternehmen spezialisiert auf die Beratung von Kommunen, hat seit November übergangsweise die Geschäftsleitung von Reichertsheim und Kirchdorf inne. Cornelia Taubmann, Kämmerin der Stadt Weiden, Dozentin für Finanzrecht an der Fachhochschule Hof, ist – ebenfalls übergangsweise – Finanzchefin in den Kommunen. Die beiden haben die schwierige Aufgabe, die Finanzen der kleinen VG im Haager Land in Ordnung zu bringen und nun in der letzten Sitzung des Jahres 2023 noch schnell einen Haushalt aufzustellen. Denn einen solchen hatte die Verwaltungsgemeinschaft bisher nicht verabschiedet.
Kein Haushalt von 2023
„Das Problem ist, jemand hat den Haushalt aus dem Jahr 2022 übernommen, das Jahr 2023 darüber geschrieben, alle Positionen auf null gesetzt und abgeschlossen“, erklärte Seifert in der Reichertsheimer Sitzung. Das bedeute: Im System sei das Häkchen „Rechtskraft festgestellt“ gesetzt worden, sodass der Haushalt als beschlossen, überprüft und somit rechtskräftig ausgewiesen gelte. „Es sah also so aus, als hätte der Gemeinderat einen Haushalt beschlossen, bei dem alle Positionen Null sind“, so Seifert. Entsprechend hätte daran nicht weiter gearbeitet werden können. Die Konsequenz daraus wurde nun in Kirchdorf deutlich: Durch die Null sei noch keine Gewerbesteuerzahlung eingezogen worden, eine der wichtigsten Einnahmequellen für eine Kommune. Demgegenüber ständen „1.000 Rechnungen“, die bisher nicht bezahlt worden seien, wie es in öffentlicher Sitzung hieß.
Wer das Häkchen gesetzt habe, sei nicht mehr nachzuvollziehen. Das Problem sei jedoch, dass die Verwaltungsgemeinschaft Gefahr laufe, nun ein Jahr ohne funktionierenden Etat abzuschließen, was sich gravierend auf die Handlungsfähigkeit der Verwaltung und des Gemeinderats auswirken würde. „Grundsätzlich könnten Sie ein Haushaltsjahr ohne Haushalt abschließen, das gibt es in einzelnen Fällen“, erklärte Taubmann dem Reichertsheimer Gremium. „Allerdings müssten Sie dann alle Zahlungen, die sie jährlich tätigen, mit einer Einzelmaßnahme beschließen.“ Laufende Kosten und Zuschüsse müssten einzeln vom Gemeinderat genehmigt werden, erklärte die Expertin. Ein enormer Zeitaufwand. Zwei, drei Monate wäre das Gremium damit beschäftigt, schätzten Seifert und Taubmann.
„Pseudo“-Etat beschlossen
Doch die Zeit sei abgelaufen, um einen „richtigen Haushalt“ für das Jahr 2023 zu erstellen. Die Alternative sei nun: Ein „Pseudo“-Etat, der rückwirkend ab dem 1. Januar 2023 in Kraft treten solle. Seifert und Taubmann schlugen vor, schlicht das Zahlenwerk von 2022 zu übernehmen, auf jeden Posten einen Inflationsausgleich von zehn Prozent aufzurechnen und diesen Not-Haushalt durchzuwinken. Über die Jahresrechnung könnten anschließend die richtigen Positionen ermittelt und abgerechnet werden.
Nicht alle Gemeinderatsmitglieder zeigten sich jedoch mit dem Plan zufrieden. Insbesondere Stephan Baumgartner (Einigkeit Ramsau) kritisierte in Reichertsheim das Vorgehen. Denn im Vermögenshaushalt seien Positionen festgehalten worden, die längst abgeschlossen seien, wie der Kauf eines Grundstückes, für das im Jahr 2022 auch ein Kredit aufgenommen worden sei. „Wenn Gehälter um zehn Prozent erhöht werden, da kann ich mitgehen, aber ich kann keine Kreditaufnahme, die nicht stattfindet, um zehn Prozent erhöhen.“ Er plädierte dafür, Einzelmaßnahmen zu beschließen – trotz des zeitlichen Aufwands.
„Wollen nicht, dass Verwaltung handlungsunfähig bleibt“
Auch Gerhard Landenhammer (Interessengruppe Reichertsheim) sprach von „vielen ungeklärten Größen“ im Haushalt. „Aber gleichzeitig wollen wir nicht, dass die Verwaltung handlungsunfähig bleibt.“
Die viel größere Frage, die im Raum stand, war allerdings: Wer hat das ganze Chaos zu verantworten? Im Kirchdorfer Rat zeigte sich insbesondere Werner Eberl (FWG Kirchdorf) erbost. Er habe kein Vertrauen mehr ins System, auch nicht gegenüber Bürgermeister Christoph Greißl (FWG Kirchdorf). „Ich habe schon lange das Gefühl, dass alles nicht mehr ganz richtig läuft und dass die Gemeinderäte schon lange schimpfen, aber nie was passiert ist.“ Josef Schneider (FWG Kirchdorf) sah dies jedoch anders. Die Gemeinderäte hätten sich seiner Meinung bisher zu wenig aggressiv verhalten, wodurch es zu dieser Situation gekommen sei.
Doch auch im Reichertsheimer Rat wurde Kritik an Bürgermeister Franz Stein (Einigkeit Ramsau) laut. Baumgarnter bemängelte, dass der Rathauschef offensichtlich auch nicht den neuen Haushaltsplan überprüft habe, sonst wären ihm Ungereimtheiten wie beispielsweise die unnötige Kreditaufnahme aufgefallen. „Stattdessen schaust du wieder nicht über die Zahlen, Franz“, warf er Stein vor. „Wir wurschteln weiter wie immer.“ Der Bürgermeister verteidigte sich: „Mir wurde von der Consulting-Firma nicht die Aufgabe gestellt, die Haushaltspositionen durchzugehen, sondern ich sollte entscheiden, machen wir die Erhöhung um zehn Prozent, ja oder nein? Und ich habe zugestimmt.“
Kritik an Sicherheitslücke
Ratsmitglied Landenhammer ärgerte sich über die Sicherheitslücke im Rathaus, die zu dem zwar rechtskräftigen, nicht aber funktionierenden ersten Haushalt geführt habe. Außerdem könne er nicht verstehen, warum nicht mehr herauszufinden sei, wer den fatalen Haken gesetzt habe. „Wie kann es sein, dass wir einen solchen Datenverlust haben? Ich als Unternehmer muss betrieblich zwei Datensicherungssysteme vorweisen. Gibt es so etwas in der Verwaltung nicht?“ Kommissarische Kämmerin Taubmann erklärte, dass nun ein Überwachungssystem eingerichtet worden sei. „Jetzt können wir nachvollziehen, wer welche Änderungen vornimmt. Zuvor war das nicht der Fall.“
Haushalte müssen noch durch die Rechtsprüfung
Schließlich wurden die Not-Haushaltswerke in der Gemeinde Kirchdorf mit drei Gegenstimmen und im Gemeinderat Reichertsheim mit zwei Gegenstimmen beschlossen. Die Etats müssen nun noch durch die Rechtsprüfung des Landratsamts Mühldorf. Taubmann zeigte sich aber optimistisch, dass mit Hinweis auf die Sondersituation auch die Aufsichtsbehörde keine Einwände haben dürfte.
VG geht in Klausur
Im Januar/Februar soll für die Verwaltungsgemeinschaft eine Klausur stattfinden, um die Haushalte für 2024 zu beraten. Denn nach Seiferts Einschätzung herrsche hier dringender Nachholbedarf in puncto Professionalität, zumindest beim Reichertsheimer Gremium. „Bereits Ihr Haushalt von 2022 weist Defizite auf“, stellte er fest und auch bei der Jahresrechnung von 2022 gebe es massive Ungereimtheiten, die aufgearbeitet werden müssten. Taubmann stimmte zu. „Für 2024 haben wir dann die Chance, das erste Mal einen vernünftigen Haushalt, so wie man ihn normalerweise macht, zu verabschieden.“
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