„Uns stehen Tränen in den Augen“
Sturmflut an der Ostsee: „Wir haben um jedes Boot gekämpft“ – Offenbar mehr als 35 Boote gesunken
Schleswig-Holstein erlebt ein Jahrhundert-Hochwasser. Auch Mecklenburg-Vorpommern bekommt die Sturmflut zu spüren. Die Schäden sind immens.
Flensburg/Rostock – Es war nicht weniger als ein Jahrhundert-Hochwasser, das das Ostseeufer Schleswig-Holsteins am Freitag heimsuchte. Der Pegelstand riss vielerorts die Sieben-Meter-Marke und lag damit mehr als zwei Meter über dem durchschnittlichen Wasserstand, wie den Angaben der Hochwasser-Sturmflut-Information des nördlichsten Bundeslandes zu entnehmen ist. Betroffen war auch Mecklenburg-Vorpommern, wenn auch in geringerem Ausmaß.
Sturmflut an der Ostsee: Katastrophenschutz rechnet mit Schäden im dreistelligen Millionenbereich
Der verursachte Schaden soll sich im dreistelligen Millionenbereich bewegen, wie der Leiter des Stabes Katastrophenschutz im schleswig-holsteinischen Innenministerium frühzeitig erklärte. Laut dem Landesfeuerwehrverband werden die Reparaturen und Aufräumarbeiten einige Zeit in Anspruch nehmen.
Heftig in Mitleidenschaft gezogen wurde der Olympiahafen in Kiel Schilksee. Hier sanken mehr als 35 Boote, viele weitere wurden beschädigt. Auch der Hafen, die Stege und die Mole wurden in Mitleidenschaft gezogen. „Uns stehen die Tränen in den Augen, wenn wir die Gewalt des Hochwassers und die angerichteten Schäden sehen“, betont Philipp Mühlenhardt, Geschäftsführer der Sporthafen GmbH. Oberbürgermeister Ulf Kämpfer (SPD) spricht von einem „Desaster“.
Sturmflut versenkt Dutzende Yachten: „Haben um jedes Boot gekämpft“
Im Floatmagazin sprach Mühlenhardt am Samstag sogar davon, „bisher 45 gesunkene Yachten ausgemacht“ zu haben. Allerdings dürfte die Dunkelziffer demnach erheblich sein. „Wir haben um jedes Boot gekämpft, aber um 20 Uhr am Freitagabend mussten wir abbrechen“, bedauert der Sporthafen-Chef, der seinen Familienurlaub unterbrach: „Dann wurde es lebensgefährlich.“
Zu Wort kommt auch Ole Pietschke von der Yachtversicherung Pantaenius, demzufolge am Samstagmorgen alle Mitarbeiter inklusive der freiberuflichen Kollegen im Einsatz waren. „Der Schwerpunkt unserer Arbeit liegt momentan in Kiel, Eckernförde, Damp bis hinauf nach Flensburg“, schilderte er am Nachmittag: „Nach Maasholm konnten wir wegen der Evakuierung noch gar nicht hinein. Da dürfte es das Höchstmaß an Schäden geben.“
Hochwasser in Flensburg: Hafen überflutet und Strom abgestellt
Laut der Feuerwehr mussten rund 2000 Menschen wegen der Sturmflut in der Nacht zum Samstag ihre Häuser verlassen. Auch Urlauber wurden dem Innenministerium zufolge evakuiert. Auf Fehmarn kam eine Frau ums Leben, als ihr Auto von einem Baum getroffen wurde.
In Flensburg, wo nach Angaben des Bundesamtes für Schifffahrt und Hydrographie der Wasserhöchststand 2,27 Meter über dem Normalwert und damit höher als in den vergangenen 120 Jahren lag, waren Teile des Hafengebiets überflutet. Die Stadtwerke schalteten aus Sicherheitsgründen in den betroffenen Bereichen vorübergehend den Strom ab.
Etwa 250 Einsatzkräfte versuchten zu retten, was zu retten war. Am Samstag sprach Oberbürgermeister Fabian Geyer (parteilos) von einem „extremen Hochwasser“. Der Politiker musste sich Kritik gefallen lassen, weil er am selben Tag zu einem Urlaub an die Nordsee aufbrach, wie die SHZ berichtet (Artikel hinter einer Bezahlschranke).
Jahrhundertflut an der Ostsee: Schäden in Millionenhöhe – die Bilder




Wassermassen in Eckernförde: „Unser Haus war eine Insel, das Wasser hatte es komplett umspült“
Hart getroffen wurde auch Eckernförde. Keller liefen voll, die Promenade wurde verwüstet, Bäume wurden entwurzelt. Im Spiegel (Artikel hinter einer Bezahlschranke) schildert eine Anwohnerin: „Das war so beängstigend, unser Haus war eine Insel, das Wasser hatte es komplett umspült.“
Zu Wort kommt auch ein Feuerwehrmann aus dem nahen Loose, der in der Nacht auf Samstag „nur ein, zwei Stunden geschlafen“ hatte. „So eine Situation habe ich noch nie erlebt“, schildert Hauke Lassen: „Wir sind viele Einsätze in der Nacht gefahren, haben unter anderem 60 Schafe und einen verletzten Landwirt im Wald gerettet.“ Außerdem hätten sie pausenlos Sandsäcke gefüllt.
In Ostholstein durchbrachen die Wassermassen mehrere Strandwälle und beschädigten Deiche. Andere Deiche brachen unter der Last der Fluten. Auch der Hafen in Schleswig wurde überflutet, der Strom abgestellt.
Sturmflut auch in Mecklenburg-Vorpommern: Straßen in Wismar unter Wasser
Mecklenburg-Vorpommern kam etwas glimpflicher davon. Wie der NDR berichtet, wurden in Wismar Straßenzüge und Parkplätze überschwemmt, in Sassnitz spülte das Wasser Bodenplatten der Strandpromenade weg.
Massive Beschädigungen erlitten die Hafenanlagen und die dort liegenden Schiffe in Stahlbode zwischen Stralsund und Greifswald. In Ahrenshoop auf dem Darß sowie in Breege auf Rügen wurden große Teile des Sandstrandes weggerissen.
In Wieck am Darß brach am Samstagnachmittag ein Hinterlanddeich an zwei Stellen. Das Wasser strömte bis zum Sonntagmorgen aus einem der beiden Löcher auf die umliegenden Felder, zwei Kühe starben.
Nach der Sturmflut: Politiker fordern besseren Küstenschutz - Özdemir ist gefragt
Der in Mecklenburg-Vorpommern für den Klimaschutz zuständige Minister Till Backhaus (SPD) erklärte: „Wir haben keine Menschenleben zu beklagen, keine Verletzten, und keine Kapitalwerte verloren. Das ist das Wichtigste.“ Er will sich aber auch mit der Bitte um zusätzliche Mittel an den für Küstenschutz zuständigen Agrarminister Cem Özdemir (Grüne) wenden, weil vielerorts Strände und Dünen ins Wasser gespült wurden.
Auch in Schleswig-Holstein wurden Forderungen nach Konsequenzen laut. Politiker von SPD, FDP und Südschleswigschem Wählerbands (SSW) riefen zu einer Überprüfung und Verbesserung der Küstenschutzkonzepte, einem Hilfefond und mehr Geld für den Küstenschutz auf.
„Das Wasser kann völlig ungehindert in unsere Städte und Ortschaften fließen“, mahnte der SSW-Bundestagsabgeordnete Stefan Seidler: „Die Menschen waren auf sich selbst gestellt. Das kann nicht sein.“
Sturmflut in Schleswig-Holstein: Ministerpräsident Günther kündigt Hilfe an
Serpil Midyatli, SPD-Vorsitzende und Oppositionsführerin im Kieler Landtag, findet: „Die Kommunen dürfen bei der Bewältigung der verheerenden Folgen der Flut nicht alleine gelassen werden.“
FDP-Fraktionschef Christopher Vogt monierte, der Katastrophenschutz im Innenministerium müsse gestärkt werden, „damit unser Bundesland auf solche Katastrophen zukünftig noch besser vorbereitet werden kann“. Es sei an der Zeit, die „hierfür von der Landesregierung angekündigten 15 Stellen“ zu besetzen.
Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU), der sich in seiner Heimatstadt Eckernförde einen Überblick verschaffte, lobte den Zusammenhalt „angesichts dieser schrecklichen Flutkatastrophe“. Es sei klar, „dass wir natürlich helfen werden“. (mg, mit dpa)
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