Inflation auf höchstem Stand seit 70 Jahren
Was tun gegen Kaufkraft-Schwund? Was Experten zu höheren Löhnen und Einmal-Zahlungen sagen
Die Teuerungsrate liegt in Deutschland gerade bei zehn Prozent und damit so hoch wie zuletzt vor mehr als 70 Jahren. Arbeitnehmervertreter fordern deshalb hohe Lohnsteigerungen. Doch was ist möglich? Und was nötig? Clemens Fuest vom Münchner ifo-Institut und Sebastian Dullien vom IMK geben Antworten.
München – Egal ob fürs Heizen, Tanken oder Essen: Im Moment muss man für so gut wie alles tiefer in die Tasche greifen. Die Teuerungsrate liegt in Deutschland gerade bei zehn Prozent und damit so hoch wie zuletzt vor mehr als 70 Jahren. Mittlerweile hat selbst die Mittelschicht Probleme, Geld auf die Seite zu legen. Denn die Teuerung frisst immer höhere Teile des Einkommens auf.
Arbeitnehmervertreter fordern deshalb hohe Lohnsteigerungen. Die Chemiebranche, wo es vor wenigen Tagen bereits eine Einigung gab, zahlt ihren Beschäftigten in den nächsten 20 Monaten 6,5 Prozent mehr Gehalt. Obendrauf kommen Sonderzahlungen von 3000 Euro pro Kopf. Und Verdi will für die Angestellten im öffentlichen Dienst 10,5 Prozent mehr und schon nach einem Jahr nachverhandeln, falls die Teuerung weiter hoch bleibt.
Die Forderungen sind angesichts der stark gestiegenen Lebenshaltungskosten verständlich – stoßen aber bei Arbeitgebern nicht unbedingt auf offene Ohren. Vor allem in der Metall- und Elektrobranche droht ein harter Arbeitskampf. Hier fordert die Gewerkschaft Verdi für ihre Mitglieder acht Prozent mehr, die Arbeitgeberverbände finden das aber überzogen und verweisen darauf, dass die Unternehmen selbst durch die hohen Energiepreise in einer kritischen Lage sind und deswegen kaum finanziellen Spielraum haben.
Doch was ist möglich? Und was nötig? Müssen Arbeitnehmer ihre Forderungen zurückschrauben, um die Existenz der Unternehmen nicht zu gefährden? Oder müssen die Unternehmen jetzt umgekehrt für ihre Mitarbeiter auf Gewinne verzichten – auch, um Fachkräfte an Bord zu halten? Und droht vielleicht sogar eine gefährliche Spirale, bei der die Wirtschaft die gestiegenen Lohnkosten in Form höherer Preise an die Verbraucher weitergibt, was die Inflation weiter anheizen würde? Das haben wir zwei bekannte und renommierte Ökonomen gefragt: Clemens Fuest vom Münchner ifo-Institut und Sebastian Dullien vom IMK, das eher den Gewerkschaften nahesteht.
„Einmalzahlungen sind aktuell ein sinnvolles Instrument“
Herr Fuest, die IG Metall fordert gerade acht Prozent mehr Lohn, Verdi sogar 10,5 Prozent mehr. Bis zu welcher Höhe sind Lohnforderungen noch angemessen?
Fuest: Was gefordert wird und auf was man sich am Ende einigt, sind immer zwei Paar Stiefel. Lohnforderungen sind meist höher als es die Lohnabschlüsse sind. Und die Tarifpartner in Deutschland haben in der Vergangenheit gezeigt, dass sie sich ihrer Verantwortung durchaus bewusst sind. Aber aus meiner Sicht ist Differenzierung nötig, denn nicht in jeder Branche kann es hohe Lohnerhöhungen geben.
Viele Unternehmen beteuern, dass sie durch hohe Energie- und Einkaufspreise selbst stark von der Inflation betroffen sind und keine höheren Löhne zahlen können. Gibt es Branchen, in denen Lohnzurückhaltung nötig ist?
Fuest: Ein Beispiel dafür ist die Chemiebranche. Teile der Branche sind sehr energieintensiv, haben also gerade hohe Kostensteigerungen. Dennoch haben einige Unternehmen dort gut verdient. Der jetzige Tarifabschluss in der Chemie bringt spürbare Lohnerhöhungen, aber auch insgesamt 3000 Euro an Einmalzahlungen. Die Lohnerhöhungen liegen mit insgesamt 6,5 Prozent dennoch deutlich unterhalb der Inflation. Das ist angesichts der Lage ein maßvoller Abschluss.
Und in welchen Bereichen sind stärkere Lohnerhöhungen sinnvoll?
Fuest: Tarifverhandlungen dienen dazu, die Wertschöpfung der Unternehmen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufzuteilen. Aus höheren Löhnen ergeben sich auch Folgewirkungen für den Arbeitsmarkt. Deshalb sind Lohnerhöhungen in jenen Branchen sinnvoll, in denen Fachkräfte knapp sind.
Droht der Wirtschaft wegen der starken Lohnerhöhungen nun eine Lohn-Preis-Spirale?
Fuest: Derzeit ist die Inflation noch nicht durch Lohnerhöhungen getrieben. Aber es ist klar, dass es dazu kommen kann, wenn die Lohnerhöhungen sehr hoch ausfallen. Ich halte das aber nicht für sehr wahrscheinlich.
Sind Einmalzahlungen wie in der Chemiebranche denn eine Alternative zu Lohnerhöhungen?
Fuest: Damit kann man zumindest besser kalkulieren, wenn, wie im Moment, Faktoren wie der Krieg in der Ukraine die Unsicherheit schüren. Da wir gerade nicht wissen, wie die Wirtschaft sich entwickeln wird, ist es sinnvoll, dauerhafte Lohnerhöhungen zu begrenzen und erst einmal stärker auf Einmalzahlungen zu setzen. Verschwinden diese Unsicherheitsfaktoren, sollte man Lohnerhöhungen aber wieder den Vorzug geben. Denn Einmalzahlungen sind kein geeignetes Instrument zum Ausgleich von Inflation. Die Preise sind ja auch dauerhaft höher und nicht nur ein einziges Mal.
Sollte es jetzt keine oder nur geringe Lohnanhebungen geben: Lassen sich Reallohnverluste bis zu zehn Prozent mittelfristig überhaupt wieder aufholen? Oder werden Angestellte dauerhaft Wohlstand einbüßen?
Fuest: Es wird schwer sein, in der Breite die Wohlstandsverluste aufzuholen, die wir derzeit erleben. Ob wir das schaffen, hängt auch davon ab, wie klug Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft auf die Krise reagieren, ob wir zum Beispiel eine Deindustrialisierung wegen steigender Energiekosten im Vergleich zu anderen Standorten abwenden.
Indirekt gibt es schon Drohungen, dass Produktion ins Ausland verlagert werden könnte, wenn auch noch die Löhne stark steigen. Wird es Abwanderungen geben?
Fuest: Unternehmen werden immer Kosten im In- und Ausland vergleichen und darauf reagieren. Derzeit steigen die Löhne aber in vielen Ländern, weil Arbeitskräfte knapp sind. Das wichtigste Abwanderungsrisiko sehe ich deshalb momentan nicht bei den Lohnkosten, sondern bei den Energiekosten und der Energiesicherheit sowie mittelfristig in der Fachkräfteknappheit. Aber um den Fachkräftemangel zu lindern, brauchen wir ja eher höhere Löhne, außerdem mehr Aus- und Weiterbildung, Zuwanderung, Reformen des Steuer- und Transfersystems und vieles mehr.
„Ohne höhere Löhne geht den Deutschen die Kaufkraft verloren“
Herr Dullien, manche Firmen drohen, dass sie ins Ausland abwandern, wenn jetzt neben den Energiekosten auch noch die Löhne steigen. Ist das nur eine Verhandlungsstrategie oder müssen wir uns Sorgen machen?
Dullien: Lohnzurückhaltung wird nie ausgleichen können, wenn sich in einem Betrieb die Energiekosten mehr als verdoppeln. Die Preise für Erdgas werden hoch bleiben, damit wird die eine oder andere energieintensive Produktion in Deutschland nicht mehr profitabel sein. In diesen Fällen spielen aber die Lohnkosten eine untergeordnete Rolle. Und: Für die Produktion in Deutschland ist auch wichtig, dass die Nachfrage stabilisiert wird. Das geht nicht ohne Lohnerhöhungen.
Verlieren Arbeitnehmer in Deutschland durch die hohe Inflation gerade Wohlstand?
Dullien: Deutschland als Ganzes hat durch die massiv gestiegenen Preise für importierte Energie an Wohlstand verloren. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind davon stark betroffen.
Müssen Angestellte auch höhere Löhne bekommen, um die Inflation auszugleichen?
Dullien: Ja. Die Inflation bringt Haushalte zunehmend in finanzielle Nöte. Und auch aus wirtschaftlicher Sicht sind Lohnerhöhungen richtig: Ohne sie würden die Deutschen insgesamt an Kaufkraft verlieren, was die anstehende Rezession verschärfen würde.
Sollte bei Lohnerhöhungen aus Ihrer Sicht gleich die komplette Inflation ausgeglichen werden? Die lag im September bei zehn Prozent.
Dullien: Darüber werden die Tarifparteien in den jeweiligen Branchen verhandeln. Mit Blick auf die Gesamtwirtschaft ist allerdings im Moment auch klar: Die durch den Ukraine-Krieg verursachte Teuerung ist so hoch, dass die Tarifpolitik in der Breite nicht kurzfristig die Kaufkraft vollständig ausgleichen können wird. Hier ist der Staat gefragt, mit Hilfen ebenfalls die Kaufkraft der Bevölkerung zu stärken, beispielsweise durch die Gaspreisbremse.
Ab wann sind Lohnforderungen denn zu hoch?
Dullien: Ob die Lohnentwicklung gesamtwirtschaftlich angemessen ist, zeigt sich nicht an einzelnen Forderungen, sondern an den Lohnabschlüssen über alle Branchen. Solange die Lohnkosten insgesamt nicht aus dem Ruder laufen, waren die Lohnforderungen auch in Ordnung. Das gilt übrigens auch für die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale: Bisher sind die Lohnabschlüsse nicht stabilitätsgefährdend. Auch in den aktuellen Tarifrunden sehen wir keine Anzeichen inflationstreibender Lohnentwicklungen.
Auch Piloten fordern einen Lohnausgleich, viele Normalverdiener schütteln da gerade den Kopf. Verstehen Sie das?
Dullien: Grundsätzlich müssen auch Gutverdiener wegen der höheren Preise ihren Konsum einschränken, was die Konjunktur dämpft. Wenn man in der aktuellen Lage über Verteilungsfragen diskutieren will, sollte man eher die Frage stellen, warum einige Unternehmen gerade kräftig ihre Gewinne steigern und da niemand nach einer „Nullrunde“ bei den Gewinnen ruft.
Es gibt auch Branchen, die durch hohe Energiekosten selbst stark unter der Inflation leiden. Müssen sich Arbeitnehmer in diesen Bereichen mit Forderungen zurückhalten?
Dullien: Der Abschluss in der Chemieindustrie ist ein Beispiel dafür, dass die Tarifparteien das berücksichtigen. Man muss sich aber auch klarmachen: Ein oder zwei Prozent mehr oder weniger Lohnplus sind angesichts anderer Faktoren wie der hohen Energiekosten oft gar nicht entscheidend für die Profitabilität von Geschäftsmodellen.
Können höhere Einmalzahlungen als Ausgleich für die gestiegenen Preise eine Alternative sein?
Dullien: Einmalzahlungen können ein Instrument sein, in der Energiepreiskrise Beschäftigten einen zusätzlichen Ausgleich für die Inflationsbelastung zu zahlen. Solche Zahlungen können aber kein Ersatz sein für normale Tarifsteigerungen, denn auch, wenn die Inflation nächstes Jahr wieder fällt, bleiben die Lebenshaltungskosten ja höher als etwa im Jahr 2021.

