Nach Veröffentlichung der Zahlen für 2022
Rekordzahl an Kirchenaustritten: Basis stellt Bischöfen ein schlechtes Zeugnis aus
Der Trend ist nicht unerwartet, aber in der Höhe erschütternd: 522 821 Menschen sind 2022 aus der katholischen Kirche ausgetreten. Statt Reformen anzupacken, blockieren einige Bischöfe Veränderungen. An der Basis wachsen Zorn und Frust.
Von Claudia Möllers, Mike Schier und Marcus Mäckler
München – „Wahnsinn“, ringt der Starnberger Stadtpfarrer Andreas Jall nach Worten, als er die Austrittszahlen aus der katholischen Kirche hört. „Ehrlich gesagt: Ich hatte es fast befürchtet.“ Die Krise der katholischen Kirche in Deutschland hat sich 2022 noch weiter verschärft. Jall hat eine unmissverständliche Erklärung parat: „Diese miserable Art und Weise der Aufarbeitung und die völlige Intransparenz bei so vielen Dingen – etwa im Erzbistum Köln – ergibt eine mediale Wolke, die voll durchschlägt.“ Viele Menschen stellten sich die Frage, wofür sie eine Kirche bräuchten, zu der sie keinen Bezug mehr hätten.
Punkt zwölf Uhr mittags waren die niederschmetternden Zahlen von der Deutschen Bischofskonferenz veröffentlicht worden. Wie die Evangelische Kirche, die bereits im März 575 000 Austritte verkündet hatte, verlor die katholische Kirche über eine halbe Million Mitglieder. Damit sind in Deutschland gerade noch 47,5 Prozent der Bevölkerung in einer der beiden noch großen christlichen Kirchen. Die Dynamik des Austritts zu kommentieren, tun sich Bischöfe und Sprecher schwer. Seit Jahren müssen sie immer schlechtere Zahlen erklären. Kirchenrechtler Thomas Schüller aus Münster ist da gnadenlos: „Die katholische Kirche stirbt einen quälenden Tod vor den Augen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit“, sagt er der dpa. Zugleich warnt er aber vor den Folgen auch für die Gesellschaft: „Schon sehr bald wird denen, die vielleicht mit innerer Freude die Erosion der katholischen Kirche hämisch betrachten, bewusst werden, dass viel lieb gewonnene kirchliche Aktivitäten verschwinden werden: Schulen, Kindertagesstätten, Akademien, soziale Einrichtungen.“
Diese Sorge treibt auch Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU) um. Selbst wenn kirchliche Einrichtungen heute größtenteils vom Staat finanziert würden, „befürchte ich künftig große Lücken, die der Staat nicht zu 100 Prozent ersetzen kann“. Auch wenn Bayern noch ein katholisch geprägtes Land is mit Zwiebeltürmen, Prozessionen und stattlichen Wallfahrten, schwindet die Kirchenbindung zusehend Mit 153 586 Austritten liegt der Freistaat sogar an der Spitze der 27 Bistümer, gefolgt von NRW mit 143 408 – dabei leben da mehr Katholiken (6,1 Millionen) als in Bayern (5,8 Millionen).
Mehrere Ursachen für die Austrittswelle
Die Münchner Grünen-Stadträtin Gudrun Lux (42), selbst Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, sieht mehrere Ursachen für die hohe Zahl an Austritten. Neben dem Missbrauchsskandal und dem Umgang damit spiele etwa auch eine Rolle, dass „Frauen oder queere Menschen in der Kirche weiterhin diskriminiert werden“, sagt sie. Lux glaubt, dass die Kirche weiterhin Mitglieder verlieren wird Sie selbst stelle sich immer wieder die Frage, ob sie „in dieser Kirche, die auch eine Täterorganisation war“, bleiben könne. „Für mich ist Kirche aber auch Heimat und ich gebe sie noch nicht auf, sondern will weiter daran mitwirken, dass meine Kirche Türen und Herzen weit aufmacht und alle einlädt.“
Hiltrud Schönheit, die Vorsitzende des Katholikenrats der Region München, stellt etwas resigniert fest: „Man hat nicht das Gefühl, dass in der Kirchenleitung so richtig verstanden wird, was notwendig wäre.“ In Deutschland sei es nicht vermittelbar, wenn in der Kirche ein „völlig überkommenes monarchisches Leben herrscht“. Was es jetzt nicht brauche seien Bischöfe, die sagten, sie hätten verstanden. „Das ist schon so oft gesagt worden.“ Stattdessen sollten sie sich mit den Gremien auseinandersetzen und miteinander nach Lösungen suchen. Es gebe Bischöfe, die wollten Veränderungen. Dazu zählt sie auch den Münchner Kardinal Reinhard Marx. „Aber es dauert eben alles zu lange.“ Und die Sorge vieler Bischöfe, die die Institution schützen wollten – die ist ihrer Meinung noch immer da.
Auch Pfarrer Jall ist wütend auf die Bischöfe. „Als Pfarrer vor Ort muss man den Menschen Rede und Antwort stehen“, sagt der Starnberger Stadtpfarrer. Schon 2010 hätten die Bischöfe den Mut haben müssen, die Missbrauchsvertuschung offenzulegen, „nicht stückchenweise. Jetzt sind wir Getriebene, ein Skandal kommt nach dem anderen“. Wut und Enttäuschung treibe die Pfarrer um – „vor allem, weil wir wissen, was Kirche auch sein könnte.“