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Sicher Kinderkriegen im Chiemgau – Teil 1

WHO meldet hohes Risiko für Frauen bei der Geburt: Region dagegen auf Weltklasse-Niveau?

Geburten in ländlichen Regionen: Ein Test für das heimische Gesundheitssystem – Im Gespräch mit Prof. Dr. Gerhard Wolf (links) und Prof. Dr. Christian Schindlbeck von den KSOB in Traunstein
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Geburten in ländlichen Regionen: Ein Test für das heimische Gesundheitssystem – Im Gespräch mit Prof. Dr. Gerhard Wolf (links) und Prof. Dr. Christian Schindlbeck von den KSOB in Traunstein

Das Durchschnittsalter der Erstgebärenden steigt und Vorerkrankungen nehmen zu. Gleichzeitig erwartet die Gesellschaft eine komplikationsfreie Geburt und ein gesundes Kind. Doch die Realität sieht oft anders aus. Wir haben bei den Ärzten im Klinikverbund Südostbayern nachgefragt – und spannende Antworten erhalten.

Traunstein/Bad Reichenhall – Die Zahlen wirken wie aus einer anderen Zeit: Weltweit stirbt laut einer neuen Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) alle zwei Minuten eine Frau an den Folgen einer Schwangerschaft oder Geburt. 260.000 Todesfälle weltweit im Jahr 2023. Doch was global als dramatische Krise gilt, ist im Klinikverbund Südostbayern (KSOB) beinahe undenkbar. In Traunstein und Bad Reichenhall – zwei der regionalen Standorte der KSOB mit Geburtsstation – spricht man von einer medizinischen Versorgung auf Weltklasse-Niveau. Und dennoch: Herausforderungen und Probleme lauern auch in der Region hinter jeder Ecke - Zukunft ungewiss.

„Ich bin jetzt seit über fünfzehn Jahren in der Region tätig und kann auf 25.000 Geburten in dieser Zeit zurückblicken – und wir hatten keinen einzigen mütterlichen Todesfall“, sagt Prof. Dr. Christian Schindlbeck, Chefarzt der Frauenklinik am Klinikum Traunstein. Und weiter: „Wir reden hier über ein Niveau, das weltweit heraussticht“. Auf ganz Bayern gesehen sterben pro Jahr ein bis zwei Frauen im Zusammenhang mit einer Geburt – bei insgesamt rund 80.000 Geburten. Auslöser sind hier meist schwere Erkrankungen vor oder während der Schwangerschaft.

In Deutschland wird jede Klinikgeburt zentral dokumentiert. „Wir melden jeden einzelnen Wert nach Berlin – an das Institut für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen“, sagt Schindlbeck. Auffälligkeiten führen meist umgehend zu Stellungnahmen, Qualitätssicherungsverfahren oder Konsequenzen. „Das ist also ein enormer bürokratischer Aufwand, den wir natürlich auch haben jeden Tag. Und da wird jeder pH-Wert und zahlreiche Parameter nach Geburt, nach Berlin gemeldet, verpflichtend.“

Dunkelziffer und postnatale Traumata? „Nicht nachvollziehbar“

Auch von einer möglichen „Dunkelziffer“ bei mütterlichen Todesfällen – insbesondere in Ländern mit eigentlich guter Statistik – ist im Bericht der WHO die Rede. Prof. Schindlbeck hält diese Einschätzung aus deutscher Perspektive für „nicht nachvollziehbar“. Jeder Todesfall werde in Deutschland offiziell erfasst, jeder Totenschein unterliege rechtlichen Standards. Unklare oder unnatürliche Todesfälle landen automatisch bei der Rechtsmedizin. „Hier entgeht dem System nichts“, so der Chefarzt.

Was allerdings nicht systematisch erfasst wird, sind psychische Folgestörungen nach der Geburt – Wochenbettdepressionen etwa oder posttraumatische Belastungen nach schwierigen Geburten. Auch dazu äußert sich Schindlbeck deutlich: „Sobald die Frau entlassen ist, haben wir als Klinik keine Handhabe mehr. Die Nachsorge liegt bei Hebammen und niedergelassenen Ärzten.“ Dass dabei auch Fälle durchrutschen, sei bekannt. „Natürlich gibt es da eine Dunkelziffer – aber nicht bei Todesfällen.“

Was wir nicht sehen: Risiken, die steigen

Doch der Blick auf die Statistik reiche nicht aus. Denn: Schwangerschaften verändern sich. Das Durchschnittsalter der Erstgebärenden liegt inzwischen bei 31 Jahren – Tendenz steigend. Hinzu kommen Vorerkrankungen wie Bluthochdruck, Adipositas oder Diabetes. „Wir sehen zunehmend Frauen mit komplexen medizinischen Vorgeschichten“, sagt Schindlbeck. Von Krebserkrankungen über künstliche Befruchtung bis hin zu Eizellspenden im Ausland – die schiere Menge an möglichen Kombinationen potenzieller Risiko-Faktoren steigt, so der Mediziner.

Gleichzeitig wächst der gesellschaftliche Anspruch: „Wenn heute in Deutschland eine Frau ein Kind bekommt, erwartet sie zu Recht eine komplikationsfreie Geburt und ein gesundes Kind. Die Erwartung ist: Null Risiko“, ergänzt Prof. Dr. Schindlbeck und verweist damit auch auf eine gewisse Diskrepanz zwischen öffentlicher Wahrnehmung und realer medizinischer Herausforderung.

Zwischen Leben retten und Systemgrenzen

Prof. Dr. Gerhard Wolf, der Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im Klinikum Traunstein betreut die kleinsten Patienten der Region – Frühgeborene, die heute schon ab der 23. bis 24. Schwangerschaftswoche überleben können. „Wir hatten letztes Jahr ein Kind mit 365 Gramm. (...) Vor wenigen Jahrzehnten war das undenkbar“, sagt Wolf. Heute gelinge es immer öfter. Doch der Preis dafür sei hoch: medizinisch, personell, finanziell.

„Die Versorgung dieser Kinder ist extrem aufwendig“, so Wolf weiter. Traunstein ist eines der wenigen Level-1-Zentren in der Region – das bedeutet: Hier dürfen und müssen Kinder unter 1500 Gramm behandelt werden. In den Landkreisen Traunstein, Berchtesgadener Land, Altötting und Mühldorf gibt es kein weiteres Zentrum dieser Versorgungsstufe. Diese Zentralisierung sei aber durchaus sinnvoll, sagt Wolf, denn Erfahrung und Routine seien entscheidend. „Aber man muss sich klar machen: Für eine solche Versorgung braucht es Tag und Nacht spezialisierte Fachärzte – Kinderärzte mit Zusatzqualifikation in Neonatologie –, Kinderkardiologen, ein spezielles Notfallteam mit Inkubator. Das ist teuer, das ist personalintensiv – und das wird im aktuellen Gesundheitssystem nur unzureichend refinanziert.“

Notfälle auf dem Berg, Hausgeburten im Tal – Kritik an der WHO; berechtigt?

Auch wenn das Versorgungsnetz engmaschig ist – ländliche Regionen stellen das System immer wieder auf die Probe. Geburten in abgelegenen Gebieten wie Schneizlreuth oder Ramsau sind selbstverständlich keine Seltenheit. „Natürlich kommt es vor, dass wir mit dem Rettungsdienst oder dem Hubschrauber zu einer Hausgeburt gerufen werden“, sagt Wolf. Für solche Fälle stehen beispielsweise mobile Inkubatoren bereit – Systeme, die mit wenigen Minuten Vorlauf in Hubschrauber oder Rettungswagen verladen werden können. „Das funktioniert – aber es bleibt eine Ausnahmesituation.“

Eine der zentralen Aussagen aus dem Interview mit den beiden Chefärzten bleibt hängen: Die niedrige Sterblichkeit in Deutschland wird oft als selbstverständlich angesehen – dabei ist sie das Ergebnis jahrzehntelanger medizinischer Entwicklung. „Heute meinen viele, Kinderkriegen – da kann ja nichts mehr passieren. Und es gibt ja überhaupt keine Sterblichkeit und gar nichts mehr. Warum soll ich da zum Beispiel in ein Krankenhaus gehen, wo es ja nicht so schön ist? Und wo andere Leute einem unter Umständen sagen, was man tun sollte“, sagt Schindlbeck. „Und das führt natürlich schon dazu, dass es Tendenzen gibt, auch immer mal wieder zum Beispiel zur Hausgeburt, zur Waldgeburt, zur Alleingeburt.“ Dabei zeige ein Blick in die Geschichte: „Vor 150 Jahren war Kinderkriegen hochgefährlich.“ Die Frage, ob dieses Wissen in der Gesellschaft noch ausreichend präsent ist, stellt sich durchaus. „Wir haben ein System aufgebaut, das maximale Sicherheit bietet – aber nur so lange, wie wir es auch finanzieren, pflegen und ernst nehmen“, fasst Schindlbeck zusammen.
*** Wie lange kann das noch gut gehen? Teil 2 der Serie beleuchtet, wo das System an seine Grenzen stößt – und was passieren muss, damit Frauen auch in Zukunft in der Region noch sicher Kinder kriegen können. *** (sl)

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