„Das ist mein Weg, meine Schwester nicht zu vergessen“
Wie ein Flugzeugabsturz in Nepal das Leben eines Bernauers für immer verändert hat
Renate Wössner ist 35 Jahre alt, als sie mit ihrem Mann bei einem Flugzeugabsturz in Nepal stirbt. Die Tragödie, die sich am Montag, 22. August, vor 20 Jahren ereignete, hat ihren Bruder Markus zu einem anderen Menschen gemacht. Wie er die Erinnerung an seine Schwester am Leben erhält.
Bernau am Chiemsee – 17 Meter sind es, um die sich der Pilot verrechnet – und die 18 Menschen das Leben kosten. Auch Renate Wössner und ihr Ehemann Rainer sitzen in der „Twin Otter“ und wollen über den Himalaya. Nach einer Reise durch Nepal ist die Stadt Pokhara ihr Ziel – von dort soll es zurück nach München gehen. Nur 19 Minuten soll der Flug mit der Propellermaschine dauern. Doch die beiden, sie 35, er 44 Jahre alt, kommen dort nie an.
Das Wetter schlägt um, Nebel zieht auf. Fatal für die Route, die auf 6000 Metern Höhe durch eine Schlucht zwischen zwei 8000 Meter hohen Bergmassiven verläuft. Der Pilot des kleinen Flugzeugs irrt sich bei der nötigen Höhe – und fliegt am 22. August 2002 gegen eine Felswand. Die Twin Otter zerschellt. Alle Insassen sterben.
„Sie hat es einfach gespürt“
Markus Wössner, Renates Bruder, hat seine Schwester hunderte Male sterben sehen. In seinen Träumen, wie er erzählt. Noch heute, 20 Jahre später, sitzt der 52-Jährige wie versteinert da, wenn er zurückblickt, wie er und seine Eltern von ihrem Tod erfuhren.
Daheim, in Bernau am Chiemsee im Kreis Rosenheim, klingeln damals zwei Kriminalbeamte und bringen Gewissheit. „Der Mutti war davor aber schon klar, dass Renate tot ist – sie hat es einfach gespürt.“ Stundenlang hatte die Familie da schon vor dem Fernseher gesessen und Nachrichten geschaut: Bei einem Flugzeugabsturz in Nepal, hieß es, seien 13 Deutsche ums Leben gekommen.
Nach der Tragödie brechen Markus Wössner, seine Frau Petra und sein Vater nach Nepal auf. „Die Reise war wichtig, um Abschied zu nehmen“, sagt er. „In den Medien hieß es, die Leichen seien verkohlt. In meinen Träumen konnte ich meine Schwester gar nicht mehr erkennen.“ Ein Feuer hat es bei dem Unglück in Nepal aber nie gegeben. Vor Ort, in dem kleinen Ort Kristi in Nepal, werden noch immer die Trümmer vom Unglück geborgen, als Wössner und seine Familie ankommen. „Ich habe Renate eine dunkle Locke abschneiden lassen, viel geweint und lange gelitten“, erzählt Markus Wössner und zwirbelt mit seinem Zeigefinger durch die Luft, als würde er die Haare drumwickeln.
„Bin danach ein anderer Mensch geworden“
„Ich habe meinen Frieden mit dem Unglück gemacht und bin danach ein anderer Mensch geworden“, sagt Wössner. Vom „Schlipsträger mit Jurastudium“, wie er sich selbst beschreibt, sei er zu einem Mann geworden, dem bewusst sei, wie wertvoll jedes Leben ist – und der etwas zurückgeben will.
Als Wirtschaftsjurist Karriere machen und „fremde Streitigkeiten austragen“, das will er plötzlich nicht mehr. Stattdessen macht er sein Hobby zum Beruf und eröffnet in seiner Heimat in Bernau am Chiemsee ein Radsportgeschäft. Selber Vater wollte Wössner vor dem Unglück nie werden. Auch das ändert sich. 2005 bekommen er und seine Frau Petra eine Tochter – Sophia Renata.
Seit Renates Tod glaubt Markus Wössner an Schicksal, an Vorbestimmung. Der 52-Jährige trägt heute am liebsten Lederhose und Flipflops und tingelt durch das ganze Oberland – in einer Mission. „Nepal hat mich seit Renates Tod nie losgelassen“, sagt er. Auf eine zweite Reise nach Kristi folgen weitere. Dort, im kargen, ärmlichen Hochgebirge, bauen die Nepalesen damals gerade eine Schule – nur 800 Meter vom Unfallort entfernt. Das zeichnet Wössners künftigen Weg vor. „Schicksal“, sagt er. „Renate war Lehrerin. Was wäre also mehr in ihrem Sinne? Aus Unglück muss Glück gemacht werden – das war fortan mein Ziel.“ Der deutsche Reiseveranstalter und die nepalesische Fluggesellschaft legen nach dem Absturz für das erste Klassenzimmer zusammen. Die Nepalesen selbst sammeln für ein zweites. Und Wössner grübelt, wie er von Bayern aus helfen kann. Seine Mission beginnt.
„Radeln und Helfen“
Über die Stiftung „Zahnärzte ohne Grenzen“ sammelt er anfangs Sach- und Geldspenden für sein Projekt „Gold für Kristi“, heute läuft das Projekt über den Verein „Radeln und Helfen“. Schuluniformen, Pausenbrote, Ausbildung und das Gehalt der Lehrer sowie der Ausbau der Schule müssen Jahr für Jahr finanziert werden. 61 Kinder besuchen die „Shree Bayali Basic School“, acht Lehrer unterrichten dort.
Rund um Kristi verdienen die Menschen ihr Geld mit Reisanbau. Das Wasser ist verunreinigt. Wer es nicht abkoche, sei tagelang krank, erzählt Wössner. Dass Kinder hier eine Schule bis zur achten Klasse besuchen können, sei auch logistisch eine Herausforderung. „Viele Spenden fließen in den Aufbau der Infrastruktur und in Schulbusse“, sagt er. Es gebe Kinder, die sonst vier Stunden am Tag zu Fuß in die Schule laufen müssten.
Dafür, dass die kleine Schule auch im Chiemgau jeder kennt, sorgt Wössner jeden Tag. Für den bunten Hund, der auf dem Rad oder im VW-Bus unterwegs ist, ist das Spendensammeln zum Lebensinhalt geworden. Auf der Theke in seinem Radsportgeschäft steht eine kleine Kuh aus Keramik: „Wann immer Leute auf meine Geschichte aufmerksam werden, spenden sie – und meine Mitarbeiter werfen sogar ihr Trinkgeld hinein.“
Spenden über Alt- und Zahngold
Auch außerhalb seines Ladens rührt Wössner die Werbetrommel für Kristi, organisiert Spendentouren für Mountainbiker, arbeitet mit Chiemgauer Firmen zusammen. Wer das Kristi-Bier von den Traunsteiner Brauern „Camba Bavaria“ kauft, spendet automatisch einen Teil des Preises an die Schule in Nepal. Wer „Bayerischen Reis“ der Firma „Chiemgaukorn“ kauft, ebenfalls. Als nächstes plant Wössner ein Kristi-Brot. „Den Löwenanteil der Spenden akquirieren wir aber noch immer über Alt- und Zahngold.“
Sein Arm reicht inzwischen bis in die Welt der Promi-Sportler. Jürgen Hingsen zum Beispiel hat sein Zahngold gespendet. „Das Zahngold einer Zehnkampf-Legende wollte ich aber nicht einfach in Bargeld umwandeln. Daher hat es die Münchner Künstlerin Andrea Matheisen dann für eine Bronzefigur verwendet – und bei einer Figur blieb es nicht“, erzählt er. Auch Speerwerfer Klaus Wolfermann, Biathlet Fritz Fischer, Snowboard-Weltmeisterin Isabella Laböck und die Huberbuam, die berühmten Extremkletterer aus Trostberg, helfen. Nach Hingsen standen auch sie Modell für Skulpturen, die ab 27. August drei Wochen lang auf Gut Steinbach in Reit im Winkl (Kreis Traunstein) für „Gold für Kristi“ ausgestellt werden sollen.
Mit dem Erlös aus dem Kunstprojekt, den Produktkooperationen, Sportveranstaltungen und dem Inhalt der Spendenkuh fliegt Wössner am 7. November wieder nach Nepal. Sechs Ärzte werden ihnen diesmal begleiten. Ob er nicht auch mal müde werde? „Nein“, sagt er und klopft mit der flachen Hand auf seine Lederhose. „Das ist mein Weg: meine Schwester nicht zu vergessen und anderen zu helfen.“ Damit aus Unglück weiter Glück wird. So lautet die Mission.

