Prien: Roseneck-Direktor Voderholzer
„Dosis macht das Gift“: TikTok, Tumblr oder WhatsApp für Kids verbieten?
Seit Australien ein Social-Media-Verbot für Jugendliche bis 16 erlassen hat, tobt auch in Deutschland die Diskussion über ähnliche Maßnahmen. Eine Petition, die im Mai an den Bundestag übergeben werden soll, fordert genau das. Prof. Dr. Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor der auf psychosomatische Erkrankungen bei Jugendlichen spezialisierten Schön-Klinik Roseneck Prien, hat dazu eine klare Meinung.
Prien – Die Schön-Klinik Roseneck in Prien hat kürzlich ihre Kapazitäten für die Behandlung von psychisch kranken Kindern und Jugendlichen in der Jugendvilla um 48 Betten erweitert. Neben „klassischen“ Krankheitsbildern wie Ess-, Angststörungen oder Depressionen werden auch Probleme durch exzessive Mediennutzung weltweit immer häufiger. Australien hat deshalb ein weitreichendes Social-Media-Verbot für Kinder bis 16 erlassen.
In Deutschland hat die Lehrerin, Mutter und Autorin Jeannette Deckers eine Petition unter dem Titel „Kein Zugang zu Soziale Medien für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren“ gestartet. Zehntausende Menschen haben bereits unterzeichnet. Die Stimmensammlung läuft noch bis 14. Mai, dann soll sie an den Petitionsausschuss des Bundestages übergeben werden. Kommt also ein Verbot auch hierzulande? Prof. Dr. Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor der Roseneck-Klinik, hat eine klare Meinung dazu.
Wo liegen die Ursachen für den exzessiven Social-Media-Konsum von Jugendlichen?
Voderholzer: Das hat auch mit der Corona-Zeit zu tun. Den Leuten fehlt ein Teil ihrer Jugend, ein Teil ihrer Entwicklung. Stichwort soziale Kompetenz, soziale Fertigkeiten. Viele haben da Defizite und glauben, dass soziale Medien ein Ersatz für echte Kontakte mit Menschen und Gruppen sind.
Und dem ist nicht so…
Voderholzer: Nein. Viel Kontakt über Instagram, Facebook, TikTok und generell die Medien kann die gesunden Erfahrungen in Gruppen niemals ersetzen. Also die Realitäts-Erlebnisse im Fußballverein, im Tanzverein, im Handballverein, beim Reiten oder sonst wo.
„Jugendliche leiden sehr viel an Einsamkeit“
Vereinsamung durch die Nutzung von sozialen Medien: Ist dieser Faktor durch die Corona-Pandemie verstärkt worden?
Voderholzer: Jugendliche leiden sehr viel an Einsamkeit heute. Die Corona-Pandemie war jetzt ein starker Faktor dafür, aber es gibt seit Jahren auch andere Faktoren, die das Risiko von psychischen Erkrankungen für die Kinder und Jugendlichen erhöhen. Die exzessive Nutzung von sozialen Medien ist ganz klar einer davon. Die Dosis macht dabei das Gift. Kinder und Jugendliche, die viele, viele Stunden am Handy in den sozialen Medien verbringen, haben mehrere negative Folgen. Sie bewegen sich körperlich weniger, schlafen dann auch nachts weniger, weil sie immer noch am Handy sitzen. Auch die Inhalte sind gefährlich: Man weiß, dass zwölf- bis 15-jährige Jugendliche bereits Kontakt zu sehr vielen schädlichen Seiten hatten.
Welche Auswirkungen spüren Sie davon in Ihrer Tagesarbeit?
Voderholzer: Bei den Essstörungen kann ich es am besten sagen, weil ich mich damit am meisten befasst habe. Es gibt schädliche Anleitungen, wie man die perfekte Diät macht. Oder, wie man Krankheiten auslösen kann, sich selbst verletzt oder wie man sich umbringt. Auch Mobbing und Cybermobbing spielen eine Rolle. Ein Jugendlicher kann heute mit zwölf, dreizehn einen Pornofilm sehen. Ich weiß, als ich so alt war, hätte ich das gar nicht verkraftet.
Was wäre die Lösung?
Voderholzer: Ich nenne das Beispiel Australien. Die haben jetzt eine Gesetzgebung gemacht, dass Social Media bis zu einer bestimmten Altersgrenze komplett verboten ist. Ich hoffe, dass da auch in Deutschland stärkere Regulierungen kommen. Instagram hat verhältnismäßig wenig Regulierungen für die Jugend drin, TikTok fast keine. In Tumblr sind extrem viele schädliche Seiten drin. Vor allem Jungen nutzen exzessiv soziale Medien, auch Spiele bis zur Spielsucht. Für die Mädchen sind vor allem die vorgegaukelten Schönheitsideale, perfekte Körper, wunderschöne Bilder, gefährlich.
Frühe körperliche Reife ein Problem
Ab wann kann ein Jugendlicher diese Flut von Bildern und Informationen ohne psychische Schäden verarbeiten?
Voderholzer: Die zu frühe körperliche Reife scheint auch ein Thema zu sein. Früher bekamen Mädchen mit 16 die Menstruation, jetzt mit 11. Sie haben in sehr frühem Alter eine körperliche Reife, aber die seelische Reife noch gar nicht.
Sind soziale Medien also die größte Gefahr für Jugendliche in der heutigen Zeit?
Voderholzer: Ich bin kein Freund der Generalverteufelung bin. Soziale Medien haben auch einen Nutzen, aber für viele Jugendliche überwiegen leider die schädlichen Auswirkungen. Der Umgang mit sozialen Medien und soziale Medienkompetenz müssen in der Schule frühzeitig vermittelt werden. Viele Jugendliche glauben ja: Was auf TikTok kommt, ist die Welt in der Welt. Die schauen gar keine Nachrichten mehr wie die Tagesschau an, die ich noch mit meinem Vater gesehen habe. Ich glaube, in Australien ist es so schlimm gewesen, dass die gar nicht mehr anders konnten. Und in den USA, wo sie TikTok dicht machen wollten, wäre fast Panik ausgebrochen.
Wären Sie denn für ein Verbot von sozialen Medien in Deutschland nach dem Vorbild von Australien?
Voderholzer: Ich wäre dafür, dass es entweder verboten wird oder viel stärkere Beschränkungen eingeführt werden. Eine viel bessere Kontrolle, um die Verbreitung von wirklich schwerst gesundheitsschädlichen Sachen zu verhindern. Solange das alles zugänglich ist, ist es besser, man würde es komplett verbieten. Das gilt vor allem für TikTok oder Instagram, WhatsApp ist wieder eine andere Sache. Eine ständige Kontaktmöglichkeit zu anderen Personen hat ja auch einen großen Wert, also das würde ich nicht komplett verbieten wollen.