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„Sobald das Kind in die Schule kommt, gehört es dem Staat“

Schreckliche Erlebnisse bewegen Kolbermoorer Erstklässler des Jahrgangs 1943 bis heute

Ausflug in die Vergangenheit: Stammtisch-Teilnehmer Franz Grill aus Kolbermoor mit einer Klassenaufnahme seiner Klasse aus Grundschulzeiten.
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Ausflug in die Vergangenheit: Stammtisch-Teilnehmer Franz Grill aus Kolbermoor mit einer Klassenaufnahme seiner Klasse aus Grundschulzeiten.

Wenn sich die Schüler des Erstklässlerjahrgangs 1943 zu ihrem monatlichen Stammtisch treffen, werden unzählige Erinnerungen ausgepackt. Schöne, aber auch schreckliche. Welche Erinnerungen die weit über 80 Jahre alten Teilnehmer noch heute tief bewegen.

Kolbermoor – An jedem ersten Donnerstag im Monat trifft sich in Kolbermoor ein Schülerstammtisch. Wer sich jetzt fragt, ob denn schon Schüler unbedingt einen Stammtisch brauchen und ob dort am Ende auch noch Bier getrunken werde, kann beruhigt sein. Erstens geht es dort vor allem um Kaffee und Kuchen – und zweitens sind die „Schüler“ schon alle weit in den 80ern.

Eingeschult wurden sie nämlich bereits 1943, haben es aber bis heute geschafft, den Kontakt untereinander aufrecht zu erhalten und sich sogar regelmäßig zu treffen. Worüber sie sich unterhalten? Über Gott und die Welt natürlich, wenn auch verständlicherweise immer wieder mal die Frage kommt „Weißt Du noch?“ und dann Geschichten von früher erzählt werden. Kathie Lechner entschuldigt sich fast dafür: „Frira hamma uns imma denkd: Mei de oidn Leit, de redn imma von de oidn Zeitn – und jetz samma selba scho so weid.“

„Kaum warst Du in der Schule, gingen die Sirenen los“

Und natürlich möchte man auch als Besucher wissen, wie das denn so war, wenn man 1943, also mitten im Krieg eingeschult wurde. „Fliegeralarm“ – das ist das, was bei allen die markanteste Erinnerung ist: „Kaum warst du in der Schule, gingen die Sirenen los und es hieß ab in den Keller.“ Nur wenige aber gingen dorthin, die meisten schauten lieber, dass sie heimkamen.

Obwohl das mehr als gefährlich war: Viele erinnern sich daran, wie sie sich auf dem Heimweg immer wieder in den Straßengraben warfen oder platt auf die Straße legten, aus Angst vor den Tieffliegern, die in der Regel auf alles schossen, was sich bewegte. Eine Erinnerung, die viele von ihnen heute im Alter mehr plagt als in jüngeren Jahren. „Über diese Erlebnisse red ich eigentlich nicht gern“, sagt Marianne Schlarb. „Man kann, wie es wirklich war, den Jüngeren auch gar nicht vermitteln.“

Schule war früher aber auch ohne Fliegeralarm kein Zuckerschlecken. Die Lehrer waren streng, in der Nazi-Zeit sowieso. Für Franz Gritl war Schule eigentlich schon am ersten Schultag erledigt, erzählt er: „Sobald das Kind in die Schule kommt, gehört es dem Staat“ habe der Rektor damals getönt, er sich aber gesagt: „Nix da, i gher der Mama.“

Jeden ersten Donnerstag im Monat treffen sich ehemalige Kolbermoorer Erstklässler des Jahrgangs 1943 zum Stammtisch.

Die Mamas wiederum mussten ihre Kinder damals allein erziehen, die Väter waren ja alle im Krieg und Geld war knapp. Wenn es denn überhaupt etwas zu kaufen gab. „Ich erinnere mich“, so erzählt Marianne Schlarb, „wie ich einmal abends zum Einkaufen geschickt wurde, stolperte und die Lebensmittelmarken verlor. Eine Katastrophe – denn ohne die gab‘s ja nichts zu essen. Opa, Oma und ihre Mutter sind deshalb ausgerückt, um mit Laternen nach den Marken zu suchen – Gott sei Dank mit Erfolg“.

Zur Erstkommunion zwangsweise im weißen Kleid

Und viele Frauen am Stammtisch erinnern sich noch heute mit Schaudern an die Forderung des sehr gestrengen Pfarrers, zur Erstkommunion 1947 müssten alle Mädchen in einem weißen Kleid erscheinen. Wer keines anhabe, dürfe nicht teilnehmen. Da war Improvisationstalent gefragt. Anneliese Angerer etwa bekam ein Kleid aus dem Brautschleier ihrer Mutter. Und die Schuhe? Die wurden einfach weiß angemalt.

Überhaupt Schuhe: Auch die waren damals Mangelware. Die Kinder gingen von April bis November meist barfuß in die Schule. Im Frühjahr und Herbst eine eiskalte Angelegenheit. Wer Glück hatte, bekam Holzpantoffeln mit einer Sohle aus einem alten Fahrradmantel, damit die nicht gar so rutschig waren. Im Klassenzimmer gab es dann wenigstens einen Torf-Ofen. Wer ihm am nächsten saß, musste dann immer wieder nachlegen. Trotzdem war der Platz wegen der Wärme begehrt, so dass immer wieder durchgewechselt wurde.

Währungsreform 1948 brachte noch nicht die Wende

Auch die Währungsreform 1948 brachte für die meisten am Stammtisch noch nicht die vielbeschriebene Wende: „Es gab zwar wieder was zu kaufen – bloß: Wir hatten ja kein Geld“, heißt es am Tisch. Zum ersten Selbstverdienten kamen nicht wenige der Frauen am Stammtisch dann in der Spinnerei. Die Arbeit dort hatte vor allem für die jung Verheirateten einen großen Vorteil: Man hatte reelle Aussicht auf eine betriebseigene Wohnung und überdies auf einen Platz im Kindergarten der Spinnerei.

Trotz allem: Gefragt, ob sie lieber heute oder damals noch einmal Kind wären, ist von etlichen zu hören: „Lieber damals. Man war arm, die Zeiten mehr als hart, aber irgendwie freier als heute. Für Kinder gab es viel Arbeit, viel Mithelfen, aber doch weniger Druck, weniger Zwänge“, sagt etwa Magret Auer. Und etwa ab Mitte der 50er-Jahre sei dann auch ein klein wenig Wohlstand aufgekommen. Es hätte nicht nur wieder alles zu kaufen gegeben, man hätte sich das eine oder andere sogar leisten können. Die 50er, das sei wirklich keine schlechte Zeit gewesen, denn man dürfe nicht vergessen: „Wir waren einfach jung damals.“

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